Hirtenbrief zur Fastenzeit 2023

Bis zum Ende standhaft

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Es war bald nach Beginn meines Amtsantrittes als Bischof von Chur, also vor über 32 Jahren, als ich eines Sonntags in der Innerschweiz an einer Strassengabelung im Anblick einer idyllisch gelegenen Kapelle stand und über deren Eingang eine einprägsame Inschrift entdeckte, die da lautet: “Maria zur guten Wende”. Eine solche Bezeichnung der Mutter Jesu hatte ich zuvor noch nie gehört oder gelesen. So war ich doch recht gespannt darauf zu sehen, ob es in diesem kleinen Marienheiligtum ein besonderes Gnadenbild zu betrachten gäbe. Was aber zeigte sich meinen Augen? Eine stattliche Kreuzigungsgruppe, in der Mitte unter dem Kruzifix eine Pietà. Das machte mich nachdenklich. Warum “Maria zur guten Wende”? Bekanntlich gab Jesus vom Kreuz herab dem Apostel und Evangelisten Johannes, seinem Lieblingsjünger, die eigene Mutter zu dessen Mutter. “Frau, siehe, dein Sohn!” – “Siehe, deine Mutter!”[1] Unser Glaube erkennt darin das wunderbare Vermächtnis von Jesu jungfräulicher Mutter an seine bräutliche Kirche. Das ist die grosse Wende der Mutter des Gottessohnes zur Mutter der Kirche. Und diese gnadenvolle Wende wird somit zum Grund und Anlass unserer guten Wende vom Unerlösten zum Erlösten, vom Sünder zum Heiligen, vom Unversöhnten zum Versöhnten. Der aus dem Schoss Marias hervorging und nun nach der Kreuzesabnahme als der für uns und zu unserem Heil Gestorbene wieder auf dem Schoss Marias liegt, ruft uns bei der Betrachtung dieser Pietà-Darstellung zur Umkehr, also zur guten Wende in unserem Leben. Seine barmherzige Mutter tritt bei ihm fürbittend für uns ein. Diese stete Wende aus Sünde, Schuld und Tod zur persönlichen Heiligung, zu christlicher Tugend und zu übernatürlichem Leben besagt: Bis zum Ende standhaft bleiben – so wie Maria zusammen mit dem Lieblingsjünger Jesu aufrecht stand unter dem Kreuz.[2]

Der Herr setzt seine Jünger voll ins Bild über die Bedrohungen und Gefährdungen, ja sogar über die Misshandlungen und Hasserfahrungen, die ihnen bevorstehen und die durch alle Zeiten hindurch nie aufhören werden.[3] Er lässt die Seinen nicht im Unklaren: “Ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden; wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet.”[4] Es besteht in der Nachfolge Jesu eine Radikalität, die weder klein- noch schöngeredet werden kann. Sie gehört geradezu zum Eigentümlichen der Verähnlichung mit der Person Jesu und der Angleichung an sein Leben. Sie ist die geforderte und unausweichliche Nachahmung seiner Sendung zur Rettung der Seelen. Da ist nichts drin von faulen Kompromissen mit dem sogenannten Zeitgeist, von behaglichem Wohlbefinden, von esoterischen Praktiken der Selbsterlösung.

  1. Bis zum Ende standhaft – im wahren Glauben

Wer gewohnt ist, den Rosenkranz zu beten, weiss, dass wir dessen Gesätzchen nach dem Glaubensbekenntnis die Bitte an Jesus voranstellen, er möge in uns den Glauben – den wahren Glauben – vermehren; er möge in uns die Hoffnung – die christliche Hoffnung – stärken; er möge in uns die Liebe – die göttliche Liebe – entzünden. Die Betonung auf “wahr” zu legen, wenn es um unseren Glauben geht, ist zu jeder Zeit, besonders aber heutzutage, wo wir so viel Verwirrung und Verirrung erleben, von besonderem Gewicht. Jedem, der in die zeitgenössischen kirchlichen Diskussionen und Debatten Einblick hat, wird schnell klar, dass die Wahrheitsfrage in eine Schieflage geraten ist und dem Diktat des Relativismus unterliegt. Die berühmte Pilatus-Frage: “Was ist Wahrheit?”[5] ist für viele so zweifelbeladen und skepsisbelastet wie bei dem, der aus Feigheit und Menschenfurcht, aus Karrieregründen und Popularitätshascherei das ungerechte Urteil gefällt hat.

Doch Jesus, der selbst die Wahrheit ist, nimmt damals wie heute und auch in Zukunft nichts von dem zurück, was er vor Pilatus unmissverständlich ausgesprochen hat: “Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.”[6] Jesu Standhaftigkeit im Zeugnis für die Wahrheit kostet ihn das irdische Leben. Für diese göttliche Wahrheit stirbt Jesus den Martertod. Es werden ihm dies unzählige Blutzeugen im Verlaufe der Kirchengeschichte gleichtun. Auch wir als Christgläubige sind eingeladen und aufgerufen, ja geradezu erwählt und ausersehen, für die volle Wahrheit Zeugnis abzulegen – für Jesus Christus und seine Heilsbotschaft, wie sie uns aufgrund der Offenbarung durch unsere Kirche unverkürzt und unveränderlich verkündet wird. Die lehramtlich gesicherte Glaubensweitergabe ermutigt und bestärkt uns darin, bis zum Ende standhaft zu bleiben.

Durch Taufe und Firmung sind wir erwählte Kinder Gottes, die schliesslich “die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen”[7] haben. Im Taufgelöbnis, das wir dann und wann erneuerten und wiederholten, haben wir dem Satan, all seinen Werken und all seinem Gepränge eine Absage erteilt und unseren Glauben an den Dreifaltigen Gott und sein Heilswirken bekundet. Die Frage, die sich einem jeden von uns stellt, ist schlicht und einfach folgende: Sind wir diesem Taufversprechen treu geblieben? Leben wir aus der Tauf- und Firmgnade? Bezeugen wir mutig, was wir durch das Geschenk der Gotteskindschaft sind? Haben wir noch einen klaren Begriff davon, was dem Geist der Wahrheit und was dem Geist des Irrtums entspricht? Der Apostel sagt: “Alles, was aus Gott gezeugt ist, besiegt die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube.”[8] Der Glaube, und zwar der wahre Glaube, schenkt immer die gute Wende.

  1. Bis zum Ende standhaft – in der christlichen Hoffnung

In so manchem Seelsorgegespräch musste ich die Aussage hören: “Der oder die ist ein hoffnungsloser Fall” oder etwa “Bei dem oder der habe ich die Hoffnung aufgegeben” oder auch “Für den oder die habe ich keine Hoffnung mehr”. Solche Bemerkungen bezogen sich meist auf Personen, die in schweren Suchtproblemen stecken und bei denen es – menschlich betrachtet – keine Aussicht auf Besserung oder Änderung mehr zu geben schien. Eben menschlich betrachtet! Wo jemand eine Situation als ausweglos erfährt oder ansieht, stellt sich jene verhängnisvolle Frustration ein, bei der offenbar Hoffnung keinen Platz mehr findet. Nun sind wir als Christen gefragt und herausgefordert. Denn uns wird im Vertrauen auf Gottes Allmacht und Güte jene Hoffnung wider alle Hoffnung zugemutet, von welcher der Völkerapostel spricht.[9]

Die Schöpfung und in ihr der Mensch sind ohnehin der Vergänglichkeit unterworfen; aber uns ist in Jesus Christus, dem Erlöser, Hoffnung geschenkt. “Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung.”[10] Es gehört zu unserer gläubigen Grundausstattung, wonach “wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt.”[11] Diese Glaubensgewissheit, die in der zuversichtlichen Hoffnung auf die göttliche Erlöserliebe gründet, veranlasst uns stets aufs neue, denen Mut zu machen, die sich am Ende ihrer Hoffnung wähnen. Ihnen dürfen wir versichern, dass es im Vertrauen auf Gottes Vorsehung und Heilswillen immer auch dort noch Hoffnung gibt, wo alles hoffnungslos erscheint. So kann der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Thessalonicher schreiben: “Wir danken Gott für euch alle, sooft wir in unseren Gebeten an euch denken; unablässig erinnern wir uns vor Gott, unserem Vater, an das Werk eures Glaubens, an die Opferbereitschaft eurer Liebe und an die Standhaftigkeit eurer Hoffnung auf Christus, unseren Herrn.”[12]

Man sagt üblicherweise: Not lehrt beten. Wir dürfen ebenso sagen: Hoffnung lehrt beten. Deswegen ist es nie ein billiger Trost, wenn wir den Menschen, die in vielfältigen Nöten sind und die gerade auch die grosse Not der Hoffnungslosigkeit angesichts scheinbar unlösbarer Sorgen und Probleme kennen, unser Gebet versprechen. Solches Beten beruht auf der christlichen Hoffnung, dass Gott in seiner Allmacht das Unmögliche möglich machen kann. So helfen wir zuversichtlich unseren verzagten und verzweifelten Mitmenschen und nicht zuletzt auch uns selber, die wir gelegentlich in Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit geraten können, mit unserem Gebet. Es trifft eben immer zu: Nur den Betern kann es noch gelingen, hoffnungsvoll und sogar hoffnungsfroh standhaft zu bleiben bis zum Ende und bis zur guten Wende.

Dabei sind wir nicht allein auf uns selbst gestellt. In der Gemeinschaft der Heiligen, die samt und sonders Hoffnungsträger sind, finden wir – zusätzlich zu unseren Schutzengeln – starke Helfer und Fürbitter am Throne Gottes; einige von ihnen sind diesbezüglich geradezu ausersehen für verzweifelte Situationen, in aussichtslosen Nöten, für hoffnungslos Fälle.[13] Glaubwürdig wird unser Beten dann, wenn wir uns in der Gnade Gottes, also in der heiligmachenden Gnade, befinden. Diese “erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben, während wir auf die selige Erfüllung unserer Hoffnung warten: auf das Erscheinen der Herrlichkeit unseres grossen Gottes und Retters Christus Jesus.”[14]

  1. Bis zum Ende standhaft – in der göttlichen Liebe

Welch schönen Zusammenhang und welch harmonischen Zusammenklang von Glaube, Hoffnung und Liebe hat uns doch der Völkerapostel im Römerbrief aufgezeigt! Er schreibt: “Gerecht gemacht aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn. Durch ihn haben wir auch den Zugang zu der Gnade erhalten, in der wir stehen, und rühmen uns unserer Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes. Mehr noch, wir rühmen uns ebenso unserer Bedrängnis; denn wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.”[15] Mit diesen Worten werden wir in das Geheimnis der göttlichen Dreifaltigkeit gleichsam eingetaucht, wovon die heilige Katharina von Siena betend bekennt: “O ewige Gottheit, o ewige Dreieinigkeit! Du hast bewirkt, dass das Blut deines einzigen Sohnes durch die Vereinigung mit der göttlichen Natur ein so wertvoller Preis ist! Du, ewige Dreifaltigkeit, bist gewissermassen ein tiefes Meer, in dem ich immer Neues entdecke, je länger ich suche. Und je mehr ich finde, desto mehr suche ich dich.”[16] Durch diese Gedanken, die einer mystischen Versenkung in das Liebesgeheimnis der göttlichen Dreifaltigkeit entspringen, werden wir dazu hingeführt, die beständige und unerschöpfliche Neuheit unserer Gottesbeziehung zu entdecken. So kann es durch die Gnade, “in der wir stehen,”[17] gar nicht anders sein, als dass wir in der göttlichen Liebe und durch diese göttliche Liebe bis zum Ende standhaft bleiben.

Die Ausdauer bis zum guten Ende schliesst die Ausdauer in guten Werken mit ein. Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe ist in sich derart verknüpft, dass der Vorrang der Gottesliebe seine Echtheit in der Verwirklichung der Nächsten-liebe erweist. So ist es nur konsequent, wenn wir aus Liebe zu Gott unsere Mitmenschen lieben, ihnen dienen und nach Kräften helfen. Im ersten Johannesbrief lesen wir die deutliche Mahnung: “Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen ... wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat. Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben.”[18] Gott, der “die Liebe ist,”[19] verlangt viel von uns; er gibt dazu aber auch seine Gnade; er schenkt uns dazu den Heiligen Geist. Für Gott genügt eine bloss philantropische Sympathie oder Empathie nicht, so sehr daraus auch Gutes hervorgehen mag. Gott, der reich ist an Erbarmen, erwartet mehr. Er hat uns in seinem Sohn die erlösende Kraft der gekreuzigten Liebe kundgetan. Der wahre und einzige Erlöser der Welt, Jesus Christus, hat uns jene barmherzige Liebe am Kreuz erwiesen, die weit über alle bloss menschliche Liebe hinausgeht. Denn sie ist verzeihende Liebe. Für seine Botschaft der göttlichen Wahrheit und Liebe blieb der Herr standhaft bis zum Ende, um durch seine Ganzhingabe am Kreuz den Tod zu erleiden und zugleich zu überwinden, um Sünde und Teufel zu besiegen und zugleich das Tor zum neuen und ewigen Leben zu öffnen. Damit steht uns beständig das Ziel unserer irdischen Pilgerschaft vor Augen, wenn wir bis zum Ende standhaft bleiben im wahren Glauben, in der christlichen Hoffnung und in der göttlichen Liebe. Unser Ziel ist es schliesslich, in den Himmel zu kommen. Dabei haben wir durch den Sohn Gottes selbst, der die Seinen liebte und liebt bis zur Vollendung, die Gewissheit, dass er bei uns ist alle Tage bis zum Ende der Welt.[20]

Diese Betrachtung, der mein Hirtenbrief gewidmet ist, will uns alle im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe zur Ausdauer ermutigen. So empfehlen wir uns Maria, der Mutter von der guten Wende, und bitten sie, die stets standhaft geblieben ist, um ihre Fürsprache beim Dreifaltigen Gott für ein gutes Ende.

Schellenberg, am Fest der Bekehrung des Apostels Paulus, 25. Januar 2023

                                                             ✠ Wolfgang Haas
                                                                Erzbischof von Vaduz

 

[1] Joh 19,26-27.
[2] Vgl. Sequenz “Stabat Mater dolorosa”.
[3] Siehe Mt 16,16-39.
[4] Mt 10,22.
[5] Joh 18,38.
[6] Joh 18,37.
[7] 1Joh 4,16.
[8] 1Joh 5,4.
[9] Vgl. Röm 4,18.
[10] Röm 8,24.
[11] Röm 8,28.
[12] 1Thess 1,2-3.
[13] Vgl. z.B. den hl. Apostel Judas Thaddäus (Fest: 28. Oktober) und die hl. Rita von Cascia (Gedenktag: 22. Mai).
[14] Tit 2,12-13.
[15] Röm 5,1-5.
[16] Hl. Katharina von Siena, Dialogus “De divina Providentia”, cap. 167.
[17] Röm 5,2.
[18] 1Joh 4,16a.19-21; vgl. auch 1Joh 2,3-11.
[19] Vgl. 1Joh 4,8; 4,16b.
[20] Vgl. Mt 28,20.