Hirtenbrief zur Fastenzeit 2019

Schatz in zerbrechlichen Gefässen

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2019 von Msgr. Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

(Der Hirtenbrief ist am 1. Fastensonntag, 10. März 2019, in allen Gottesdiensten vorzulesen. Er kann auch auf zwei Fastensonntage verteilt vorgetragen werden. Zur Veröffentlichung in der Presse ist er vom 11. März 2019 an freigegeben.)

 

 

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Wohl den meisten von uns ist das Wort Jesu geläufig: “Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.”1 Einem Mädchen – über alle Ohren verliebt, wie man gelegentlich zu sagen pflegt – hat diese Redewendung besonders gut gefallen, dachte es dabei doch an sein “Schätzchen”. Dass Jesus hier nicht das “Schätzchen” der Verliebten meint, sondern dass es ihm bei seiner Rede um die falsche und die rechte Sorge im menschlichen Leben geht, war zunächst nicht in Betracht. Jesus will uns lehren, dass wir nicht vergängliche Schätze hier auf Erden sammeln sollen, sondern dass wir für uns bleibende Schätze im Himmel anlegen. Wenn also das “Schätzchen” ein wirklicher Schatz sein will, dann muss es für den Himmel tauglich sein und nicht nur himmlische  Gefühle auslösen. Solche tragen wir bekanntlich in zerbrechlichen Gefässen; sie können nur allzu schnell dahinschwinden.

Gewiss verbinden wir die liebende Empfindung eines Menschen mit dem Herzen, einem lebenswichtigen Organ, das die Durchblutung des Körpers ermöglicht und sichert. Schon das physische Herz schlägt also nicht nur für sich selbst, sondern für den ganzen Leib, um ihn mit Blut zu versorgen. So schlägt das liebende Herz gerade nicht nur für sich selbst, sondern für den geliebten Menschen und wendet sich ihm als einem wertvollen Schatz zu, den es zu umsorgen gilt. Der höchste und grösste Schatz aber ist Gott selbst, der sich uns in seinem mensch­gewordenen Sohn als die Fülle des Lebens, als die Fülle der Wahr­heit, als die Fülle der Liebe geoffenbart hat.

So kann Paulus in seinem zweiten Brief an die Korinther schrei­ben: “Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des Glanzes auf dem Antlitz Christi. Diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefässen; so wird deutlich, dass das Übermass der Kraft von Gott und nicht von uns kommt.”2 Was der Völkerapostel hier festhält, bezieht er zunächst auf sich selbst und auf seinen Dienst an der Gemeinde. Er weiss sich dabei in die Leidensgemeinschaft mit Christus hineingenommen. Paulus kennt einerseits die Grösse und Schön­heit des Aposteldienstes, zugleich aber auch die Not, die sich oft damit verbindet. Sein Verhältnis zur Gemeinde von Korinth hatte sich verschlechtert. Gegnerische Kreise versuchten, die junge Christengemeinschaft gegen ihn aufzuhetzen. So wird es notwendig, den Korinthern die richtige Beurteilung seiner apostolischen Mission zu ermöglichen. Die teilweise schon erlangte Versöhnung soll zu einer vollständigen geführt werden. Dies will der Völkerapostel durch eine demütige christusförmige Darstellung seines grossen Auftrages erreichen. So bekennt er freimütig: “Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet. Wohin wir auch kommen, immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird.”3

Was den apostolischen und missionarischen Dienst damals kennzeichnete, widerfährt den treuen Dienern und wahren Verkündern der Kirche in allen Zeiten – so auch heute. In einer säkularisierten Umwelt, wie wir sie gerade auch in unseren Breiten erleben, tun wir uns oft schwer, wenn wir offen die Wahrheit lehren und wenn wir in dem Dienst, der uns durch Gottes erbarmende Liebe übertragen wurde, unseren Eifer nicht erlahmen lassen, uns vielmehr von aller schimpflichen Arglist losgesagt haben und das Wort Gottes nicht verfälschen.4

Das Neuheidentum, das sich auch bei uns immer mehr ausbreitet und so manche Formen von Religionsersatz bis hin zu okkulten Praktiken hat erstehen lassen, macht eine Neuevangelisierung erforderlich, die der unverfälschten und ungeschmälerten göttlichen Wahrheit verpflichtet ist, wie sie uns in der Person Jesu Christi und in seiner Lehre begegnet. Dieser wahre Schatz leuchtet uns nur im Antlitz Christi auf; wir können ihn nur auf seinem Antlitz erkennen. Freilich tragen wir diesen Schatz in zerbrechlichen Gefässen, weil jeder von uns seine Grenzen und seine Schwächen hat. Wir kennen uns – wenn wir ehrlich sind – gut genug, um zu erkennen, wie schwach, wie zerbrechlich, wie gefährdet wir alle sind, wenn es um Glaube, Hoffnung und Liebe geht, wodurch wir zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi befähigt sind.

Paulus hat gewiss bei seiner Rede von den “zerbrechlichen Gefässen” an die Töpferware gedacht.5 Wenn man als Sohn eines Töpfers mit diesem Bild konfrontiert wird, dann denkt man natürlich sofort an das keramische Handwerk und seine Produkte. Von Kind auf hörte man das poetische Wort: Gott der Schöpfer war, wie bekannt, der erste Töpfer; und man erinnert sich dabei an die Anspielung auf die Erschaffung des Menschen aus Lehm. Wie plastisch ist doch die biblische Schilderung, die wir alle kennen: “Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.”6

Schon von daher verwundert es natürlich nicht, dass Gott im Verständnis der Heiligen Schrift jene Souveränität über alle Geschöpfe besitzt, wie sie der Töpfer über die von ihm angefertigten Objekte hat.7

Am Aschermittwoch, an dem uns die Asche aufs Haupt gelegt oder ein Aschenkreuz auf die Stirn gezeichnet wird, macht uns diese Zeichenhandlung sinnenfällig die Vergänglichkeit unseres irdischen Lebens bewusst, und es erreicht uns neu der Ruf zur Bekehrung und zu einem vertieften Glauben an das Evangelium: “Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst”. Und beim Begräbnisritus vernehmen wir die Worte: “Von der Erde bist du genommen, und zur Erde kehrst du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken”. Es stellt sich die Frage, woher denn diese Zerbrechlichkeit unseres Gefässes kommt. Die Antwort darauf gibt uns der Offenbarungsglaube, wonach diese Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit Folgen der Erbsünde sind. Durch die Ursünde verlor der Mensch das Paradies: jenen Garten des gottgefälligen Lebens, der lauteren Liebe, des immerwährenden Glücks. Der Sündenfall brachte den Tod, das Leiden, das Unglück. “Infolge der Erbsünde ist die menschliche Natur in ihren Kräften ge­schwächt, der Unwissenheit, dem Leiden und der Herrschaft des Todes unterworfen und zur Sünde geneigt.”8

 

  1. Der Schatz des wahren Glaubens in zerbrechlichen Gefässen

Es ist gut für uns zu wissen, dass wir nicht die Starken sind. Die leistungsorientierte Gesellschaft, in der wir leben, erwartet den Starken, den Erfolgreichen, den Macher. Selbst im kirchlichen Leben breitet sich da und dort eine Mentalität aus, die – vielleicht unmerklich – der zeitgeistigen Machbarkeit, dem beständigen Leistungsdruck und dem zunehmenden Erfolgsdenken verpflichtet ist. Pastoralpläne, Projektstudien, Strukturreformen und was es sonst noch an vielversprechenden “Wundertüten” geben mag, das alles soll Transparenz, Effizienz und Akzeptanz sichern. Management ist gefragt; Manager sind gesucht. Leistungsausweis soll um Kundschaft werben. Biegt man den religiösen Binnenmarkt nach weltlichen Kriterien zurecht, dann braucht es eigentlich keinen Glauben mehr; dann ist auch Gott aussen vor. Man möchte alles selbst machen, sich selber den Erfolg zuschreiben, alles im Griff haben. In diese materialistisch, hedonistisch, utilitaristisch und relativistisch bestimmte Welt hinein soll nun der Schatz des wahren Glaubens gelangen – entsprechend dem vom Herrn seiner Kirche anvertrauten Auftrag, nämlich das von Gott selbst geoffenbarte und damit vorgegebene Glaubensgut getreulich zu hüten und zu allen Zeiten glaubwürdig zu verkünden. Schon in den frühen Taufkatechesen und schliesslich in den verschiedenen offiziell anerkannten Katechismen hat die Kirche sorgsam den Inhalt des wahren Glaubens so dargelegt, dass dieser als göttlicher Schatz aufscheint, durch den uns die Kenntnis der unerschöpflichen Reich­tümer des Heiles zukommt. Das Licht des wahren Glaubens soll die Menschheit “von der Unwissenheit und der Sklaverei der Sünde befreien und sie so zur einzigen dieses Namens würdigen Freiheit hinführen (vgl. Joh 8,32): zu derjenigen des Lebens in Jesus Christus unter der Führung des Heiligen Geistes hienieden, und im Himmelreich in der Fülle der Seligkeit der Anschauung Gottes von Angesicht zu Angesicht (vgl. 1 Kor 13,12; 2 Kor 5,6-8).”9

Den Schatz des wahren Glaubens, den wir auch als gläubige Menschen in zerbrechlichen Gefässen tragen, zu bewahren und wirksam werden zu lassen, übersteigt unsere bloss menschlichen Kräfte und verlangt nach der Hilfe durch Gottes gnädiges Entgegenkommen. Nur in der Kraft des geschenkhaft übernatürlichen Lebens, das wir zunächst und zuerst durch die heilige Taufe und dann auch durch die anderen heiligen Sakramente empfangen, können wir diesen Schatz aufnehmen. Wenn der Taufbewerber gefragt wird: Was begehrst du von der Kirche Gottes?, antwortet er: Den Glauben. Dass er getauft werden möchte, ergibt sich schon durch seine Anwesenheit beim Taufgeschehen. Was ihm aber die Kirche vermitteln soll und darf, ist die Gnade des Glaubens – und zwar sowohl diese eingegossene göttliche Gabe selbst als auch den vollständigen Inhalt des katholischen und apostolischen Bekenntnisses. So kann der Täufling auf die Frage: Was gewährt dir der Glaube?, die entscheidende Antwort geben: Das ewige Leben.

Weil wir eben nicht die Starken sind, sondern sehr wohl um die Gebrechlichkeit unserer menschlichen Natur wissen, wenn es darum geht, den Schatz unseres wahren Glaubens zu wahren und im Leben fruchtbar zu machen, suchen wir in unserer Schwach­heit die Hilfe und den Schutz beim Offenbarer der Wahrheit und beim Urheber des Lebens selbst: beim Dreifaltigen Gott; denn das Übermass der Kraft kommt von Gott und nicht von uns.10

 

  1. Der Schatz der christlichen Hoffnung in zerbrechlichen Gefässen

Angesichts der vielfältigen Überforderungen im heutigen Lebensstress macht sich bei nicht wenigen Menschen ein Gefühl der Hilflosigkeit und Vergeblichkeit breit. Frustrationen in zwischenmenschlichen Beziehungen, die aufgrund von Treulosigkeit, Wortbrüchigkeit und Verlogenheit immer mehr vorkommen, Frustrationen in gesellschaftlichen Umständen, in denen orientierungslos, planlos und ziellos dahingelebt wird, Frustrationen in privaten und öffentlichen Bereichen, wo es an Zukunftsperspektiven und wirklicher Sinnerfüllung fehlt, sind gleichsam vorprogrammiert. Auch hier wird deutlich, dass ein Leben ohne Gott und ohne Vertrauen in Gottes Vorsehung letztlich den Menschen auf sich selbst zurückwirft und ihn – mag er es wahrhaben wollen oder nicht – in seiner Erbärmlichkeit und Einsamkeit belässt. Frustrierte Menschen, die keinen Halt in Gottes liebender Zuwendung suchen und finden wollen, fallen leicht in Verzweiflung; sie verlieren oft auch unmerklich das Selbstvertrauen; sie erwarten dann nichts mehr von sich selbst, weil sie ohne Gottvertrauen allem, ja sich selbst misstrauen. Das macht mutlos und kraftlos zugleich. Eine andere Art, mit Frustration fertigwerden zu wollen, ist die Flucht in verschiedene Süchte: Alkoholismus, Drogenkonsum, Sexismus, Pornographie, um nur einige der häufigen Laster zu nennen. Gerade in solchen Zusammenhängen erfährt der Mensch, wie sehr er ein zerbrechliches Gefäss ist. Er mag es zugeben oder auch nicht: Es ist sehr schwer, von suchtbedingten Abhängigkeiten frei zu werden. So muss sich manch einer als hoffnungsloser Fall vorkommen oder anderen als solcher gelten.

Die christliche Hoffnung beruht auf einem ganz anderen Fundament als jedes noch so schätzenswerte menschliche Hoffnungsfünkchen. Für den Gläubigen ist Gott der Grund der Hoffnung, der sogar zur Hoffnung wider alle Hoffnung11 fähig macht. Hoffnung ist sozusagen eine Grundstimmung im Leben eines Gottgläubigen. Schon im Alten Bund leuchtet die Hoffnung als eine grundlegende existentielle Haltung auf. So lesen wir etwa beim Psalmisten die schönen Worte: “Herr, mein Gott, du bist ja meine Zuversicht, meine Hoffnung von Jugend auf. Vom Mutterleib an stütze ich mich auf dich, vom Mutterschoss an bist du mein Beschützer; dir gilt mein Lobpreis allezeit.”12 Paulus ist ein überzeugter und überzeugender Hoffnungsapostel, wenn er etwa im Römerbrief äussert: “Gerecht gemacht aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn. Durch ihn haben wir auch Zugang zu der Gnade erhalten, in der wir stehen, und rühmen uns unserer Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes. Mehr noch, wir rühmen uns ebenso unserer Bedrängnis; denn wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.”13  Auch wenn wir den reichen  Scha­tz der christlichen Hoffnung persönlich in zerbrechlichen Gefässen tragen, so vergessen wir doch nie den Glanz auf dem Antlitz Christi, auf dem die Zeichen des Leidens bereits im Licht der Erlösungsherrlichkeit strahlen. Wir begnügen uns also im Blick auf ihn nicht mit einem blossen Hoffnungsschimmer und lassen uns schon gar nicht täuschen von irgend einem weltlichen Hoffnungsglimmer.

 

  1. Der Schatz der göttlichen Liebe in zerbrechlichen Gefässen

Kaum ein anderes Wort ist so häufig in aller Munde wie das Wort “Liebe”, so dass man schon von einem abgegriffenen Begriff sprechen könnte. Zumindest strapaziert man dieses Wort dermassen, dass dessen Inhalt nicht selten bis zur Unkenntlichkeit entstellt erscheint. Allermeist ist der Begriff emotional, sentimental und erotisch besetzt. Liebe ist dann ein Ausdruck des subjektiven Gefühls, der momentanen Stimmung, der auf Reiz ausgerichteten Empfindung. Sie beruht vielfach auf blosser Sympathie, auf der Wahrnehmung eines bestimmten Flairs, auf einer äusseren Attraktivität, bei welcher Stil, Formen, Farben, Gesten, Kleidung und dergleichen eine Hauptrolle spielen. Da hier Modeerscheinungen massgebend sind, hörst du mitunter schon bei Kindern und Jugendlichen die Klage: Mich mag niemand, weil ich so oder so aussehe. Auf mich schaut niemand, weil ich nicht einem bestimmten Model entspreche. Mich beachtet niemand, weil ich zu wenig modisch daherkomme. Was sagen wir solchen Menschen – nicht selten sind es jüngere Menschen, oft Mädchen und junge Frauen? Es nützt gewiss nichts, ihnen zu raten, sich einem bestehenden Trend anzupassen, um beliebt zu sein, um anerkannt zu werden, um gut ins Bild zu kommen. Das würde nur den Teufelskreis der Selbstverliebtheit und Selbstbespiegelung verstärken. Nein; sagen wir ihnen etwas ganz anderes: Du bist so, wie du bist, von Gott gewollt, von Gott geliebt, von jeher sein schöpferischer Gedanke. Du bist, wenn du Glauben hast, auch geliebt und umsorgt von deinem Schutzengel, der dir bei der Taufe als Freund und Begleiter zugeteilt wurde. Du bist geliebt von deinen Namenspatronen und von deinen Freunden und Freundinnen im Himmel, also von den Heiligen. Sie, die in der Anschauung Gottes sind, mögen dich mehr als jeder Mensch auf Erden und treten bei Gott für dich ein in deinen kleinen und grossen Anliegen. Du bist geliebt von deinen Angehörigen, die dir im Glauben vorangegangen sind und – ob noch am Reinigungsort oder schon im Himmel – für dich da sind. Ruf sie an und bitte sie um ihre Hilfe. Du bist geliebt hoffentlich auch von deinen Eltern, Geschwistern und Erziehern, von deinen Freunden und Freun­dinnen, auch wenn sie es dir vielleicht nicht oder nur ungenügend zeigen. Eines ist sicher: Wer glaubt, ist nie allein. Und du kann­st auch sicher sein, dass die Kirche, zu der du gehörst, dich liebt und täglich für dich betet. Hast du schon einmal daran gedacht, dass dem so ist, als du meintest, nicht beliebt und nicht geliebt zu sein?

 

Es ist wahr: Wir Menschen tragen den Schatz der göttlichen Liebe in zerbrechlichen Gefässen, weil wir oft eigensinnig, eigensüchtig, eigenwillig sind. Gott mutet uns trotzdem zu, dass wir seine Liebe in unseren zerbrechlichen Gefässen tragen. Gott “ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.”14 Und die Liebe jeder blossen Sentimentalität und Emotionalität enthebend, schreibt der Lieblingsjünger Jesu: “Denn die Liebe zu Gott besteht darin, dass wir seine Gebote halten. Seine Gebote sind nicht schwer.”15 Der Schatz der göttlichen Liebe, den wir in zerbrechlichen Gefässen tragen, kann sich also nicht im rein Gefühlshaften erschöpfen, sondern muss darüber hinaus – weil den Geboten Gottes verpflichtet – zum Grund und Inhalt der Lebensgestaltung werden.

Das Mädchen, über alle Ohren verliebt, zeigt schon in eine gute Richtung, wenn ihm das Wort Jesu gefallen hat: “Wo dein Scha­tz ist, da ist auch dein Herz.”16 Nur muss es erkennen, dass damit nicht einfach das geliebte “Schätzchen” gemeint ist; es sei denn, dieses würde zum wahren Schatz, der in den Himmel zu führen geeignet ist. Wenn Menschen nämlich sich gegenseitig helfen, durch ein gottgefälliges Leben in den Himmel zu kommen, dann haben sie erkannt, welcher gottgegebene Schatz sie füreinander sind. Ein solcher gegenseitiger Schatz zu sein, ist nicht einfach menschliches Machwerk, sondern bedarf der liebenden Zuwendung Gottes selbst; denn Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.

 

Wir alle wollen Gott um die Gnade bitten, dass wir nie den Schatz des wahren Glaubens, den Schatz der christlichen Hoffnung und den Schatz der göttlichen Liebe verlieren. Auch wenn wir uns als zerbrechliche Gefässe betrachten und erleben, dürfen wir mit dem Beistand Gottes darauf vertrauen, dass unser Leben im wahren Glauben, in der christlichen Hoffnung und in der göttlichen Liebe gelingt. Dazu hilft uns besonders die selige Jungfrau und Gottesmutter, beten wir doch beim Rosenkranz jene drei Ave Maria, in denen wir an Jesus die Bitte um die Mehrung des wahren Glaubens, die Stärkung der christlichen Hoffnung und die Entflammung der göttlichen Liebe richten. Amen.

 

Schellenberg am Gedenktag Unserer Lieben Frau von Lourdes, 11. Februar 2019                                                 

✠ Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

 

1 Mt 6,21; vgl. auch Lk 12,34

2 2 Kor 4,6-7

3 2 Kor 4,8-10

4 Vgl 2 Kor 4,1-2

5 Sowohl im griechischen Urtext als auch in der lateinischen Übersetzung ist von irdenen bzw. tönernen Gefässen die Rede.

6 Gen 2,7

7 Vgl. Jes 29,16; 41,25; 45,9; 64,7; auch Ps 2,9; Sir 33,13; Jer 18,1-6; Röm 9,21

8 Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) Nr. 418

9 Johannes Paul II., Apostolische Konstitution “Fidei depositum” vom 11. Oktober 1992, Schluss-Satz

10 Vgl. 2 Kor 4,7

11 Vgl. Röm 4,18

12 Ps 71,5-6

13 Röm 5,1-5

14 1 Joh 4,16b

15 1 Joh 5,3

16 Mt 6,21