Hirtenbrief zur Fastenzeit 2003

Initiative nach innen

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2003 von Msgr. Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

(Der Hirtenbrief ist am 1. Fastensonntag, 8./9. März 2003, in allen Gottesdiensten vorzulesen. Er kann auch auf zwei Fastensonntage verteilt vorgetragen werden. Zur Veröffentlichung in der Presse ist er vom 10. März 2003 an freigegeben.)

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Wenn jemand die Initiative ergreift, dann will er etwas anpacken, etwas in Gang bringen, etwas bewegen. Initiativen nach aussen sind an der Tagesordnung. Da gibt es solche im privaten und öffentlichen Leben, solche im politischen und wirtschaftlichen Bereich, solche auf kultureller und gesell-schaftlicher Ebene, solche im sozialen und karitativen Umfeld, solche im Bildungssektor und in der Sportwelt und ebenso in vielen anderen Belangen. Kleine und grosse Initiativen spielen überall und jederzeit im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft eine bedeutende Rolle. Wenn man von jemandem sagt, er sei ein initiativer Mensch, dann schwin­gt dabei auch mit: Er ist eine innovative und kreative Person. Initiativen werden “gestartet” - wie es ein Sprachge-brauch ausdrückt; man entlehnt dabei ein Wort, das sonst eher im Sport oder in der Technik verwendet­ wird. Es gibt in vielen Zusammenhängen geradezu eine Initiativfreudigkeit, die nicht selten die Gefahr in sich birgt, dass dabei der Über­blick verlorengeht. Überblick aber ist notwendig, um sich nicht selbst in Orientierungslosigkeit und Oberflächlichkeit zu verlieren. Wenn der Überblick schliesslich sogar zu einem Tiefblick führen soll, dann erfordert dies eine gesunde Innerlichkeit. So brauc­ht es gerade bei den vielen Initiativen nach aussen die Initiative nach innen, die in unser Herz gelangen möchte. Mit dem Herzen meinen wir die Personmitte, in der das Heiligtum des Gewissens geborgen ist. Initiative nach innen heisst also Vergewisserung, bedeutet Gewissenserfor­schung, besagt Gewissensbildung. Solche Initiative nach innen haben wir täglich und stündlich nötig; sie muss noch mehr als jede Initiative nach aussen an der Tagesordnung sein. Wir wollen ja hoffentlich einen “geordneten” Tag verbringen, bei dem die Hinordnung auf Gott und die Vorordnung all dessen, was Ewigkeitswert besitzt, massgebend sind.

Mit der Initiative nach innen stellen wir uns einer Herausforderung, die dem Evangelium selber entspringt. Christus sagt: “Was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn

unrein. Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein”1. Weil dem so ist, braucht es die wirksame Initiative nach innen, ja es braucht geradezu die Offensive nach innen. Es geht nämlich um einen Kampf, der dem persönlichen Egoismus und der eigenen Gottferne gilt. Weil all das Böse von innen kommt, bedarf es eines Angriffs auf all das, was das Herz von Gott und seinem heiligen Willen wegziehen und in das eigene Ich einkapseln möchte. Das Herz als Mitte der Gemütsregungen und als Sitz des Gewissens muss gleichsam befreit werden von der Isolation in sich selber. Das vermag freilich nur Der, der ins Herz sieht und der - nach einem Wort der Heiligen Schrift - “Herz und Nieren prüft”2: Das vermag nur Gott. Wenn es um die Initiative nach innen oder um die Offensive nach innen geht, dann gilt, was wir im Epheserbrief des Apostels Paulus über die Waffenrüstung Gottes lesen: “Seid also stand­haft: Gürtet euch mit Wahrheit, zieht als Panzer die Gerechtigkeit an und als Schu­he die Bereitschaft, für das Evangelium vom Frieden zu kämpfen. Vor allem greift zum Schild des Glaubens! Mit ihm könnt ihr alle feurigen Geschosse des Bösen auslöschen. Nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes. Hört nicht auf, zu beten und zu flehen! Betet jederzeit im Geist; seid wachsam, harrt aus und bittet für alle Heiligen”3.

1. Initiative nach innen durch Gebet und Betrachtung

Die Initiative nach innen kommt ohne Gebet und geistliche Betrachtung nicht zu ihrem Ziel. Soll nämlich das Herz - also der Personkern und der Sitz des Gewissens - erreicht werden, müssen wir dies durch Gebet und Betrachtung zu erlangen suchen. Da das Gebet selber aus dieser Herzensmitte entspringt, in welcher Gottes Geist wirksam ist, sind wir als betende Menschen beständig mit der Initiative von innen nach innen beschäftigt. Der, der ganz innen wirkt, lockt uns in dieses Innere, damit wir ihm begegnen. Die heilige Therese von Lisieux sagt: “Für mich ist das Gebet ein Schwu­ng des Herzens, ein einfacher Blick zum Himmel, ein Ruf der Dank­barkeit und der Liebe, aus der Mitte der Prüfung wie aus der Mitte der Freude; kurz, es ist etwas Grosses, Übernatürliches, das mir die Seele weitet und mich mit Jesus vereint”4. Und die grosse kleine Therese fügt an anderer Stelle hinzu: “Oft ist das Schweigen die einzige Art, in der ich mein Gebet ausdrücken kann; doch der göttliche Gast im Tabernakel versteht alles, auch das Schweigen einer von Dankbarkeit erfüllten Kinderseele”5. Wenn also das Schweigen der Seele geradezu wohl tut, dann gehört dieses zu jener Initiative nach innen, die den Herzensfrieden ermöglichen will. Das betrachtende Gebet - oft im Schweigen vollzogen - ist die geistliche Waffe im Kampf mit all dem, was an Bösem und Schlechten von innen kommt. Es ist die nach innen gewandte Offensive gegen die “listigen Anschläge des Teufels”6, denen wir nur mit der Rüstung Gottes widerstehen können.

Zum betrachtenden Gebetsschatz der Kirche gehört insbesondere der Rosenkranz, den wir in diesem Jahr als einzelne und als Gemeinschaft vermehrt und verstärkt pflegen wollen. Er ist bekanntlich von unserem Heiligen Vater Papst Johannes Paul II. durch die sogenannten “lichtreichen Geheimnisse” angereichert worden. Die Betrachtung der freudenreichen, lichtreichen, schmerzhaften und glorreichen Geheimnisse des Rosenkranzes passt auch gut in das Jahr der Bibel, da sie gerade die biblischen Grundlagen der einzelnen Geheimnisse aufspüren hilft. Der Rosenkranz mit den zu betrachtenden Geheimnissen kann zurecht als eine “Kurz­fassung des Evangeliums”7 bezeichnet werden. Das Rosenkranzgebet verdient eine neuerliche Belebung, gerade auch im Zusammenhang mit dem wichtigen Anliegen der Neuevangelisierung unserer persönlichen und gemeinschaftlichen Lebensbereiche. Im Dienste einer geistlichen Initiative nach innen ist das Beten und Betrachten der Rosenkranzgeheimnisse gewissermassen eine evangelisatorische Offensive, ein notwendiger Vorstoss der Frohbotschaft Christi in unser Herz.

2. Initiative nach innen durch Übung der Tugenden

Die geistlichen Waffen im Kampf gegen das von innen kommende Übel sind neben Gebet und Betrachtung die natürlichen und übernatürlichen Tugenden, worunter die göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe einen hervorragenden Platz einnehmen. Diese Tugenden zu erwerben und ständig zu üben, ist eine unverzichtbare Aufgabe bei der Initiative nach innen. Nur schon die natürlichen Tugenden gilt es zu erwerben und zu üben: etwa Höflichkeit, Rücksichtnahme, Freundlichkeit, gegenseitige Achtung, Verträglichkeit. Dazu kommen so heilige Tugenden wie Demut, Sanftmut, Gleichmut, Geduld, Gelassenheit, Fröhlichkeit. Auch die Kardinaltugenden, in deren Angeln unser Leben gleichsam wie eine Tür hängen soll, dürfen nie fehlen: Klugheit, Gerechtigkeit, Starkmut, Masshaltung. Und für den gottverbundenen Menschen stehen die göttlichen Tugenden an oberster Stelle: Glaube, Hoffnung und Liebe. So gelangen wir zur wahren Frömmigkeit und zur Gottesfurcht, welche ja “initium sapientiae”, also “Anfang der Weisheit”8, ist. Hier drängt sich uns der Begriff “Initiative” geradezu auf und lässt uns verstehen, dass es die Initiative nach innen mit der wahren Weisheit zu tun hat.

Der heilige Märtyrer Fidelis von Sigmaringen, der in unserer Umgegend lebte und wirkte, hat in seinem Tugendbüchlein die Methode dargestellt, wie wir der Seele die Tugenden einpflanzen sollen. Er schenkt uns damit ein beherzigenswertes Mittel für die Initiative nach innen und somit für die Offensive gegen Eigensinn und Eigenwillen, gegen Eigennutzen und Eigenlob. Bei seinem Weg, den er uns aufzeigt, steht an erster Stelle das Gebet: “Gütiger Jesus, Du willst, dass ich mich in der Tugend (z.B. der Demut) übe. Weil ich es nicht aus eigener Kraft vermag, bitte ich, dass Du mich stärkst und Maria, Deine Mutter, und alle Heiligen mir helfen”9. Hier wird der Vorrang der Gnade deutlich. Wer Tugenden erwerben, entfalten und üben will, der kann es nur mit Gottes Hilfe. Unser Bemühen ist daher ein Mitwirken mit der Gnade Gottes, die uns geschenkt wird, wenn wir unser Herz dafür öffnen. Die Fastenzeit, die wir beginnen, ist eine besondere Zeit des Kirchenjahres, in der wir diese Herzensöffnung vollziehen. Der zweite Schritt, den uns der heilige Fidelis nahebringen möchte, besteht darin, die Einzelheiten der Tugenden durchzudenken und uns selber geneigt zu machen, sie zu begreifen und uns anzueignen. Die Absicht, die Nachfolge Christi zu verwirklichen, soll unseren Willen bewegen. Bevor wir also sprechen und handeln, sollen wir nachdenken. Diese Nachdenklichkeit bewahrt uns vor jedem vorschnellen Sprechen und Handeln. Sie ist ein wesentlicher Inhalt unserer Initiative nach innen. Die dritte Aufgabe, worüber uns der heilige Kapuziner aufklärt, wenn es um die Einpflanzung der Tugenden in unsere Seele geht, erfüllen wir dann, wenn wir jene Akte üben, die der betreffenden Tugend entsprechen. Allfälliges Widerstreben sollen wir überwinden, indem wir auf das Beispiel Jesu schauen und Gottes Ehre zu mehren suchen. Beim Üben der Tugenden müssen wir demnach gerade auf das Kleine und Unscheinbare achten. Wir müssen uns sorgfältig und feinfühlig bemühen, die einzelnen Tugenden zu verinnerlichen und sie von innen her zu entfalten. Die Tugendinitiative nach innen wird zur Tüchtigkeit im christlichen Alltag führen. Sie wird unsere Tauglichkeit für das Reich Gottes und für unser Leben und Wirken darin ermöglichen.

3. Initiative nach innen durch das Leben mit den Sakramenten

Durch die Sakramente empfangen wir göttliches Leben. Durch sie haben wir Anteil am Leben des dreieinigen Gottes selbst, der sich uns in Liebe zuwendet. In der Taufe wird uns das Geschenk des göttlichen Lebens grundlegend zuteil. Wir sind durch sie von der Erbschuld befreit worden und in den gnadenhaften Stand der Gotteskindschaft gelangt. So sind wir Christen geworden und sollen als Glieder der Kirche christlich leben. In der Firmung werden uns die Gaben des Heiligen Geistes vermittelt, die wir für den Auf- und Ausbau des christlichen Lebens benötigen. Durch sie ergreift Gottes Geist selber die Initiative. Im Busssakrament dürfen wir uns, die wir stets Sünder sind, mit Gott immer wieder versöhnen lassen. Die heilige Beichte ist so beständig Erneuerung der Taufgnade und Wiedergewinnung der heiligmachenden Gnade, wenn wir diese durch eine schwere Schuld verloren haben. Im Geheimnis des eucharistischen Opfers schen­kt sich uns der Sohn Gottes selbst in seinem heiligen Leib und in seinem kostbaren Blut. Er wohnt uns bei der heiligen Kommunion auf wunderbare Weise ein und ist uns Speise für das ewige Leben. Durch die Krankensalbung werden wir im schweren Leiden, bei lebensbedrohlichen Krankheiten und oft angesichts des nahenden Todes aufgerichtet und erfahren Heilung und Heiligung besonders in unseren Herzen. Das Ehesakrament verbindet die Getauften zu einem heiligen Bund und lässt diesen fruchtbar werden nicht nur im Kindersegen, sondern auch im gemeinsamen Wachsen hin auf Gott und auf die ewige Bestimmung. Es ist ein Heiligungsmittel für die Eheleute selbst und für die Kinder, so Gott sie schenkt. Durch die Priesterweihe werden uns jene Diener der Kirche geschenkt, die in der besonderen Nachfolge Christi das Wort Gottes amtlich verkünden, die Sakramente spenden und den Dienst der Liebe an den suchenden, fragenden und bedürftigen Menschen ausüben. Die Weihe verähnlicht sie Christus selber, dem Hohenpriester und dem Haupt der Kirche; sie macht sie zu wahren Hirten nach dem Vorbild des Guten Hirten.

Auf den Punkt gebracht ist die Initiative nach innen dann, wenn wir erkannt haben, dass der Empfang der Sakramente und das Leben mit den Sakramenten die eigentliche Grundlage unserer Gottesbeziehung und unserer Beziehung zu uns selber und zum Nächsten sind. Wir heissen nicht nur Kinder Gottes, sondern wir sind es, weil wir durch die Sakramente wunderbaren und wirksamen Anteil am Leben Gottes selber haben. Die Initiative nach innen kann also vollends nur gelingen, wenn wir ein sakramentales Leben führen, also aus der Kraft der Sakramente leben. In Vorbereitung auf das Osterfest soll die Initiative nach innen vor allem durch eine gute persönliche Beichte und den Empfang der Lossprechung unserer Sünden konkret werden.

Wir spüren, dass die Initiative nach innen für uns eine grosse Herausforderung bringt. Sie deckt unsere Schwächen auf und zeigt uns gleichzeitig die Mittel zu deren Überwindung. So machen wir uns gerne die zuversichtliche Haltung der heiligen Therese von Lisieux zu eigen, die einmal äusserte: “Ich erfahre täglich neu, wie schwa­ch ich bin. Jesus gefällt es, mir wie dem heiligen Paulus die Kunst zu lehren, sich seiner Schwachheiten zu rühmen. Das ist eine grosse Gnade. Nur da sind Friede und Ruhe des Herzens zu finden”10. Jede echte Initiative nach innen wird zum Frieden und zur Ruhe des Herzens führen. Dazu segne uns Gott auf die Fürsprache Marias, der Rosenkranzkönigin, die wir vertrauensvoll als “Zuflucht der Sünder” anrufen.

Schellenberg, 11. Februar 2003

✠ Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

 

1           Mk 7,20-23

2           Offb 2,23; vgl. Jer 11,20; Jer 20,12

3           Eph 6,14-18

4           Therese von Lisieux. Ihr Leben und ihr “kleiner Weg” in 365 Selbstzeug-nissen, hrsg. von Waltraud Herbstrith, München-Zürich-Wien, 1997, S. 102

5           Ebda, S. 103

6           Eph 6,11

7           Vgl. Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben “Rosarium Virginis Mariae” über den Rosenkranz vom 16. Oktober 2002, Nr. 18

8           Vgl. Ps 111,10

9           Richard Schell, Das Tugendbüchlein des heiligen Fidelis, Sigmaringen 1986, S. 17

10         Therese von Lisieux, a.a.O., S. 66