Hirtenbrief zur Fastenzeit 2004

An Gottes Segen ist alles gelegen

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2004 von Msgr. Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

(Der Hirtenbrief ist am 1. Fastensonntag, 28./29. Februar 2004, in allen Gottesdiensten vorzulesen. Er kann auch auf zwei Fastensonntage verteilt vorgetragen werden. Zur Veröffentlichung in der Presse ist er vom 1. März 2004 an freigegeben.)

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

An Gottes Segen ist alles gelegen - Dieses Wort eignet sich immer wieder, um deutlich zu machen, dass wir ohne den Segen Gottes auf Dauer keinen Bestand haben können. Rein menschliche Bemühungen - so gut sie auch sein mögen - enden an menschlichen Grenzen. Auch die besten Werke der Nächstenliebe bleiben vielfach be­schränkt, wenn sie nicht aus der Gottesliebe hervorgehen und wieder zu ihr hinführen. Alles Innerweltliche ist eben endlich und kann mitunter sogar den Weg zum Ewigen gefährden, behindern oder verbauen. Selbst guter Wille allein genügt nicht, wenn Gottes Segen fehlt. Gerade der realistische Mensch wird stets mit den Grenzen seines eigenen Tuns rechnen und somit schon aus Erfahrung bescheiden bleiben. Und ist dieser echte Realist dann noch ein wahrer Christ, dann ist ihm ohnehin klar: An Gottes Segen ist alles gelegen.

Die Heiligen haben es immer gewusst: Alles ist Gnade. So sagt es etwa die heilige Theresia von Lisieux. Die kleine Theresia, die in ihrer Liebe zur Gotteskindschaft so gross dasteht, wusste sehr genau, dass menschliches Unvermögen nur durch Gottes Segensmacht aufgebrochen werden kann. Sie lebte gemäss dem paulinischen Grundsatz: “Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark”1. Der Völkerapostel kannte seine eigene Ohnmacht und bejahte sie, hatte er doch die Stimme des Herrn gehört, die zu ihm sprach: “Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwach­heit”2. Ich bin also nicht stark, wenn ich einfach auf mich selbst baue und nur mir selbst vertraue. Ich bin gerade nicht stark, wenn ich alles von mir selbst erwarte und mich auf meine eigene Kraft stütze. Ich bin eben nicht dann stark, wenn ich mich stark fühle und meine, alles selber zu können. Nein, ich habe dann wirklich Kraft und Stärke, wenn ich von der Über­zeugung ausgehe und auch danach lebe: An Gottes Segen ist alles gelegen. Diese Gewissheit ist Ausdruck unseres Glaubens an die Vorsehung Gottes. Sie hebt das ins Wort, was wir - wenn es nicht verschüttet ist - im Tiefsten unseres Herzens empfinden: völlige Abhängigkeit von Gott, der uns erschaffen und erlöst hat; gänzliche Verwiesenheit auf den, dem wir uns mit unserem ganzen Sein verdanken; umfassende Angewiesenheit auf den, der uns liebt und uns mit seinem Segen beschenkt, wenn wir uns dessen würdig erweisen.

Weil an Gottes Segen alles gelegen ist, müssen wir uns für diesen Segen bereithalten - mit offenen Herzen, die gereinigt und geheiligt sind für die Einwohnung der göttlichen Gnade. “An Gottes Segen ist alles gelegen” heisst ja keineswegs, dass Gott daran gelegen wäre, alles und jedes zu segnen, was wir ihm vorleben und vorlegen. Der Segen Gottes ruht bekanntlich nur auf denen, die nach Gottes Geboten zu leben und seinen Weisungen zu entsprechen gewillt sind. Gott respektiert durchaus den freien Willen des Menschen und gewährt seinen Segen nicht einfach automatisch. Die Ausgiessung des Segens Gottes über uns setzt voraus, dass wir gewissermassen ein Gefäss sind, das dieser Segensfülle wert ist. “An Gottes Segen ist alles gelegen” - dieses wahre und weise Wort ruft wie von selbst in uns die Frage hervor: Liegt mir überhaupt etwas an diesem Segen? Habe ich je damit angefangen oder es bereits aufgegeben, nach dem Segen Gottes zu verlangen und mich für diesen Segen würdig machen zu lassen? Heisst für mich Gottes Segen vielleicht nur, das zu wollen und absegnen zu lassen, was mir gerade gefällt und passt? Wir spüren sofort, worauf diese Selbstbefragung hinausläuft. Es ist die unverzichtbare Frage nach unserem Seelen- und Lebenszustand angesichts Gottes - eine Frage, welche eine ebenso unverzichtbare Antwort verlangt: Gewissensprüfung, Reue über unsere Sünden, persönliches Schuldbekenntnis in der Beichte, Lossprechung unserer Sünden, Erneuerung der guten Absicht und Wiedergutmachung allfälligen Schadens, kurzum: Versöhnung mit Gott und den Menschen. Die Fastenzeit ist jene besondere Gnadenzeit, in der wir uns dieser persönlichen Anfrage an uns stellen und uns nicht um eine ebenso persönliche Antwort darauf herumdrücken wollen. So wird Fastenzeit erst zur Segenszeit.

1. An Gottes Segen ist alles gelegen - Und woran liegt uns?

Bei ehrlicher Gewissenserforschung werden wir zugeben müssen, dass uns nicht immer an Gottes Segen gelegen ist. Uns liegt oft viel mehr am kleinen eigenen Ich und an unserem oft so egoistisch verstandenen Wohl. Es liegt uns offenbar sehr daran, gut auszusehen, gut anzukommen, gut dazustehen, gut aufzufallen und gut zu verdienen. Dafür tun wir so ziemlich alles; dazu investieren wir nicht selten sehr viel Zeit und Kraft, so dass Gott dabei irgendwie ständig zu kurz kommt. Wir haben dann keine Zeit zum Gebet, keine Zeit für den Gottesdienst, keine Zeit zur Stille und keine Zeit zur geistlichen Erneuerung. Der heilige Franz von Sales soll einmal gesagt haben: “Gib dir jeden Tag eine Stunde Zeit zur Stille - ausser wenn du viel zu tun hast, dann gib dir zwei­”. Wir erwarten eine andere Antwort: Wenn du viel zu tun hast, dann reicht dazu eine Viertelstunde, dann genügen fünf Minuten, dann bist du sogar entschuldigt! Wenn uns an Gottes Segen etwas liegt, dann müssen wir wieder vermehrt lernen, in die Stille zu gehen. Dann müssen wir ruhigen Herzens beten, gerade weil unser Herz unruhig ist auf Gott hin3. Wir müssen uns mit kindlichem Vertrauen Gott im Schwei­gen und im Gebet nähern. Das vom persönlichen Gebet erfüllte Stillschweigen ist sozusagen ein Atem­holen der Seele. Es tut der Seele wohl4.

Im Verlaufe der Fastenzeit werden wir gewiss Gelegenheiten finden, um uns dann und wann im heiligen Schweigen zu üben und in der Offenheit auf Gott hin still zu werden. Das Wirken des Geistes Gottes ist mehr im sanften, leisen Säuseln5 des Windes als im lauten Sturmesbrausen zu erfahren, auch wenn dieses oft die Ankunft des Heiligen Geistes vorbereitet. Woran liegt uns also? Liegt uns vor allem an uns selber? Liegt uns wirklich an Gott und seinem Liebeswalten oder liegt uns vielmehr an unserem oft so unseligen eigenen Schalten und Walten? Der Machbarkeitswahn hat nicht nur viele Menschen um uns erfasst, sondern nicht eben selten auch uns selbst - bis hinein in unser religiöses und kirchliches Leben. Dabei sollten wir doch als gläubige Menschen wissen und uns auch demgemäss verhalten: An Gottes Segen ist alles gelegen. Uns liegt an erster Stelle dieser göttliche Segen am Herzen, noch längst bevor wir nach all dem fragen, was uns liegt und woran uns liegt. Neigungen und Vorlieben müssen zurückstehen, wenn es uns um den Segen Gottes geht.

2. An Gottes Segen ist alles gelegen - Und woran liegt Gott?

Gott liegt daran, dass wir uns als das verstehen und benehmen, was wir sind. Als Getaufte sind wir Gottes Geschöpf und Kind Gottes zugleich. Wir sind es in einem ganz tiefen und umfassenden Sinne. Gott liegt also daran, dass wir als seine Geschöpfe und Kinder leben - und zwar in unserem je vorgegebenen Mann- oder Frausein. Gott will, dass wir als sein Ebenbild dieses Mann- und Frausein in einer echten Liebesbeziehung leben, wie sie unserer Gottebenbildlichkeit entspricht. Diese Liebe ist ein Sichverschenken und hat es wesentlich mit der Weitergabe des Lebens zu tun. Wahres Menschsein vor Gott kann es ohne Bereitschaft zur Lebensweitergabe gar nicht geben.

Das Leben wird zunächst in leiblich-natürlicher Weise weitergegeben. Das ist die Aufgabe der Eltern, die in einem vor Gott geschlossenen und nach seinem Willen gelebten Ehebund vereint sind. Diese Lebensweitergabe soll als Mit­schöpfertum verstanden werden und grossherzig geschehen. Sie gehört zur Vitalität einer jeden menschlichen Gesellschaft und ebenso zu derjenigen der Kirche, für welche die gültige Ehe unter Getauften ein Sakrament ist: ein Heils- und Heiligungsmittel. Diese Wahrheit gilt es gerade heute mutig zu bekennen und zu verwirklichen. Nur auf einer solch gottgefälligen Ehe liegt Segen. Nur hier kann im vollen Glaubensbewusstsein gesagt werden: An Gottes Segen ist alles gelegen.

Die Weitergabe des Lebens kann freilich auch in geistiger und geistlicher Weise erfolgen. Wer im Ehestand ohne Kinder bleibt oder im Ledigenstand lebt oder zur Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen berufen ist und darin den von Gott vorherbestimmten Weg geht, der verwirklicht eine geistige und geistliche Fruchtbarkeit. Diese gelangt aber nur dann zum Wachstum und zur Blüte, wenn sie ganz nach Gottes Geboten und nach Gottes heiligem Willen gelebt wird. Auch da gilt: An Gottes Segen ist alles gelegen.

Wem der Kindersegen zuteil wird, der bleibt ohnehin nicht nur im natürlichen Bereich. Er empfängt ein Geschenk Gottes und übernimmt damit eine heilige Aufgabe und Verantwortung. Wem der Kindersegen verwehrt ist oder wer auf diesen nach Gottes Willen verzichtet, der nimmt an jenem Segen teil, den Gott dafür vorbereitet hat und schenk­t. Bei allem geht es darum, dass wir so leben, wie es Gott gelegen ist. Ihm liegt an uns und unserem Heil entsprechend der uns je eigenen Berufung und Erwählung. Was Gott will, ist unsere Heiligung6­.

3. An Gottes Segen ist alles gelegen - Und woran liegt der Kirche?

Die Kirche ist in besonderem Masse das Werkzeug des Segens Gottes. Sie ist als ganze jenes Heilsinstrument, durch das die Menschen zur Fülle der Wahrheit und des Lebens gelangen. In ihr ist die Fülle der geoffenbarten göttlichen Wahr­heit und des uns geschenkten göttlichen Lebens gegenwärtig und wirksam. Der Kirche liegt also beständig daran, dass das Heilswerk Gottes sich in ihr und mit ihr vollzieht. Der Kirche, deren Glieder wir sind, liegt das Heil der Menschen am Herzen. Ihr Herz ist mit dem Herzen Jesu eins, aus dessen Innerstem Ströme lebendigen Wassers fliessen. Diese sind Zeichen des Lebens und der Liebe, die alles Begreifen übersteigt. So stimmt die Kirche in den Jubel des Epheserbriefes ein, worin es heisst: “Gepries­en sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Chris­tus: Er hat uns mit allem Segen seines Geistes gesegnet durch unsere Gemeinschaft mit Chris­tus im Himmel. Denn in ihm hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott; er hat uns aus Liebe im voraus dazu be­stimmt, seine Söhne zu werden durch Jesus Christus und nach seinem gnädigen Willen zu ihm zu gelangen, zum Lob seiner herrlichen Gnade. Er hat sie uns geschenkt in seinem geliebten Sohn”7.

Segnen ist also ein lebensspendendes göttliches Handeln, das sich auf wunderbare Weise im Schosse der Kirche vollzieht. Der Herr hat sich und sein Heilshandeln wesentlich an die Kirche gebunden. Er lebt in ihr fort und spendet so wirksam seinen Segen. Die vom göttlichen Stifter selbst gewollte hierarchische Ordnung der Kirche drückt sich auch in der kirch­lichen Segensordnung aus. Nicht jeder kann alles und jedes segnen. Jeder kann und soll aber dort segnen, wo seine Segenskraft wirksam wird, und dann segnen, wenn diese Segenskraft wirksam werden soll. So sollen etwa die Eltern ihre Kinder segnen. Wir sollen als Getaufte und Gefirmte im persönlichen Bereich einander segnen. Ja, wir sollen alle einander sogar zum Segen werden. Die Segenskraft wird dann wirksam, wenn sie in der rechten Weise und nach der kirchlichen Ordnung gebraucht wird. Es macht einen Unterschied, ob im persönlichen, familiären Zusammenhang oder in gemeinschaftlicher, öffentlicher Feier gesegnet wird. Es besteht ein Unter­schied, ob ein Laie oder ein Geweihter die ihm je eigene Segensmacht einsetzt. Wesentlich ist bei alledem, dass die heilige Lebensordnung der Kirche beachtet wird und alles im wahren Gehorsam geschieht. Denn nur der Gehorsam bringt Segen, auch und gerade dann, wenn es manchmal leidvoll ist, gehorchen zu müssen.

Wie man nicht mit dem Feuer spielen darf, so darf man auch nicht mit dem Segen spielen. Jeder missbräuchliche Gebrauch des Segens ist ein Verstoss gegen den Gehorsam. Jede anmassende Segenspraxis ist sündhafte Überheblichkeit. Wenn Segnungen dort vorgenommen werden, wo die Kirche solche verbietet, so zeigt sich darin eine Unfolgsamkeit, die nicht ohne negative Folgen bleibt. Um Segen erlaubt spenden und fruchtbar empfangen zu können, bedarf es jener moralischen Haltung, die uns dafür würdig macht. Jede Eigenmächtigkeit in der Anwendung der Segensmacht ist im Grunde ein Angriff auf die Liebe Gottes, der zwar frei austeilt, wie er will, der aber ebenso den Gehorsam einfordert, den er will. Sie ist damit ein stolzer Zugriff auf etwas Heiliges, das uns zwar zur Verfügung steht, über das wir aber nicht willkürlich verfügen dürfen. Sie ist ein unerlaubter Übergriff auf das Göttliche­, über das nur Gott allein verfügt und das er der Kirche anvertraut hat. Wer jedoch im rechtmässigen Gehorsam lebt, darf stets mit dem Segen Gottes rechnen.

Die Kirche birgt einen unerschöpflichen Segensschatz, der in der Quelle allen Segens gründet, nämlich in Gott selbst. Aus dieser Segensfülle zu schöpfen, sind wir als Gottes Geschöpfe und als Kinder Gottes berufen - die Laien ebenso wie die Ordensleute und die Geweihten. Wir müssen es aber nach dem Willen Gottes und nach der Ordnung der Kirche tun; dann werden Menschen und Dinge, die gesegnet werden, auch wirklich zum Segen. Der Kirche ist stets daran gelegen, dass alles in der heiligen Ordnung geschieht, wie sie der göttliche Stifter selb­st in sie hineingelegt hat und wie sie durch das Wirken des verheissenen Beistandes, des Heiligen Geistes, immer tiefer erkannt wurde und wird. Auch wenn der Geist weht, wo er will8, so stürmt er doch nicht plan- und ziellos umher. Er folgt vielmehr seiner inneren Gesetzmässigkeit, die der innergöttlichen Harmonie entspricht. “An Gottes Segen ist alles gelegen” heisst also für uns, sich dem unauslotbaren Geheimnis des dreifaltigen Gottes selber zu öffnen und Gott alles so verfügen zu lassen, wie es seinem Wohlgefallen entspricht. Denn nur was Gott tut, das ist wohl­getan.

Den grössten Segen, den je ein Mensch empfangen hat, wurde Maria, der gebenedeiten Jungfrau, zuteil. Den gröss­ten Segen, den je ein Mensch ausgespendet hat, hat Maria, die Mutter Jesu, uns geschenkt. Es ist dies Christus, Gottes und Mariens Sohn. Durch ihn und mit ihm und in ihm ist uns der Segen des himmlischen Vaters in der Einheit des Heiligen Geistes auf unüberbietbare Weise nahe. Wenn daher - wie wir glauben und bekennen - an Gottes Segen alles gelegen ist, dann können wir zurecht sagen: An Jesus Christus, unserem Herrn und Erlöser, ist alles gelegen. Wer ihn sucht und findet, hat die wahre Segensfülle erlangt. In der Stille, im Gebet, im würdigen Empfang der Sakramente, in der frommen Anwendung der Sakramentalien, im ehrfürchtigen Gebrauch der heiligen Dinge, im geordneten Segensleben lässt er sich finden. Darin offenbart er uns die Segensmacht Gottes. Darin wird konkret, was es heiss­t: An Gottes Segen ist alles gelegen.

Schellenberg, 2. Februar 2004

✠ Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

 

1           2 Kor 12,10

2           2 Kor 12,9

3           Vgl. hl. Augustinus, Confessiones 1,1,1: “Du treibst uns an, so dass wir mit Freuden dich loben, denn du hast uns auf dich hin geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruhet in dir”.

4           Die hl. Theresia von Lisieux sagt: “Das Schweigen tut der Seele wohl”.

5           Vgl. 1 Kön 19,12

6           Vgl. 1 Thess 4,3

7           Eph 1,3-6

8           Vgl. Joh 3,8