Hirtenbrief zur Fastenzeit 2008

 

Grösser als unser Herz

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2008 von Msgr. Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

(Der Hirtenbrief ist am 1. Fastensonntag, 9./10. Februar 2008, in allen Gottesdiensten vorzulesen. Er kann auch auf zwei Fastensonntage verteilt vorgetragen werden. Zur Veröffentlichung in der Presse ist er vom 11. Februar 2008 an freigegeben.)

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Als Kinder Gottes können wir stets zuversichtlich sein, auch wenn wir wissen, dass die gesamte Schöp­fung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. “Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist empfangen haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. Denn wir sind gerettet, doch in der Hoff­nung.”1 Die christliche Hoffnung, in der das Verheissene bereits gegenwärtig ist, prägt uns und macht uns sogar zur Hoffnung wider alle Hoffnung2 fähig. Sie ist eine göttliche Tugend, die uns gerade für die Ausbreitung des Reiches Gottes tauglich macht. Sie ist die treibende Kraft jeder Mission im Kleinen wie im Grossen. Sie ist eine eingegossene Gnade, die nicht auf Erfolg, sondern auf Erfüllung ausgerichtet ist. Das macht unsere Hoffnung dem Glauben und der Liebe ähnlich, bei denen nicht einfach die Wirksamkeit entscheidend ist, sondern vielmehr der Umstand, dass sie schlichtweg bestehen und Bestand haben. Wenn wir in Tat und Wahrheit lieben, “werden wir erkennen, dass wir aus der Wahrheit sind, und werden unser Herz in seiner Gegenwart beruhigen. Denn wenn das Herz uns auch verurteilt - Gott ist grösser als unser Herz, und er weiss alles.”3

Gottes Allgegenwart und Gottes Allwissenheit mögen uns zunächst durchaus auch erschrecken. Wir können uns vor Gott nicht verstecken und verstellen, auch wenn wir es noch wollten und es vielleicht sogar nicht selten tun. Dem allgegenwärtigen und allwissenden Gott entkommt jedoch niemand. Gleichzeitig aber haben wir gegenüber Gott Zuversicht, weil wir wissen: Gott ist grösser als unser Herz, das uns oft verurteilt. Gott ist grösser als unser Herz, das oft schwer leidet. Gott ist grösser als unser Herz, das oft nur schwach liebt.

Unser Heiliger Vater Papst Benedikt XVI. hat bei der Mitternachtsmesse letzten Jahres Worte geprägt, die uns nachdenklich stimmen: “Der Himmel gehört nicht der Geographie des Raum­s, sondern der Geographie des Herzens zu. Und das Herz Gottes hat sich in der Heiligen Nacht in den Stall herabgebeugt: Die Demut Gottes ist der Himmel. Und wenn wir auf diese Demut zugehen, dann berühren wir den Himmel. Dann wird auch die Erde neu. ... Berühren wir die Demut Gottes, das Herz Gottes! Dann wird seine Freude uns berühren und die Welt heller machen.”4 Unsere Welt, gerade auch hierzulande, bedarf dringend der göttlichen Erhellung; denn nur allzu viel ist auf menschliche Machbarkeit ausgerichtet und wird von bloss menschlichem Tun erwartet. Was äusserlich glänzend erscheint, verbirgt nicht eben selten innere Dunkelheiten und Finsternisse. Was Geborgenheit und Sicherheit zu versprechen vorgibt, erweist sich bei näherem Hinsehen oft als Entfremdung und Orientierungslosigkeit. Wo Gott aus dem konkreten Leben entfernt wird, entfernt sich der Mensch von sich selbst und seiner eigentlichen Berufung. Denn der Mensch ist von Gott geschaffen und auf Gott hin erschaffen.

Da Gott die Liebe ist5, will er stets bei uns und in uns bleiben. Wenn wir in der Liebe bleiben, bleiben wir in Gott. “Darin ist unter uns die Liebe vollendet, dass wir am Tag des Gerichts Zuversicht haben. Denn wie er, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn die Furcht rechnet mit Strafe, und wer sich fürchtet, dessen Liebe ist nicht vollendet.”6 Wir spüren nur allzu oft, wie unvollendet unsere Liebe ist. Deswegen können uns auch schwere Ängste befallen, die wir dann zu verdrängen oder zu überspielen suchen. Würden wir jedoch ganz ehrlich sein, müssten wir schlicht und einfach bekennen, dass es uns an der wahren Gottes- und Nächstenliebe mangelt. Wenn wir aufrichtig unsere Sünden gegen die Gottes- und Nächstenliebe erkennen, bereuen und bekennen, werden unsere Ängste schwinden. Denn so und nur so werden wir der vollkommenen Liebe näherkommen, welche die Furcht vertreibt. Wir sind gerade in der vorösterlichen und österlichen Zeit eingeladen, uns durch eine gute Beichte mit Gott versöhnen zu lassen, um selber wieder besser fähig zu werden, den lebenslangen Dienst an der Versöhnung auszuüben.

1. Grösser als unser Herz, das uns oft verurteilt

Niemand sitzt gerne auf der Anklagebank. Und doch müssen wir uns vor unserem gerechten und barmherzigen Gott immer wieder anklagen - wegen unserer Sünden, Fehler und Nachlässigkeiten, wegen unseres Versagens, Unterlassens und Ungenügens. Je mehr jemand nach Vollkommenheit und Heiligkeit verlangt, umso sensibler wird er für die Unvollkommenheit und Unheiligkeit in seinem Leben: im Denken, im Fühlen, im Sprechen und im Handeln. Das haben alle Heiligen immer wieder entdeckt und oft auch deutlich zum Ausdruck gebracht. Eine so grosse Heilige wie die kleine Therese von Lisieux hat einmal gesagt: “Ich erfahre täglich neu, wie schwach ich bin. Jesus gefällt es, mir wie dem heiligen Paulus die Kunst zu lehren, sich seiner Schwachheiten zu rühmen. Das ist eine grosse Gnade. Nur da sind Friede und Ruhe des Herzen zu finden.”7 Die Heiligen sind sich in hoffnungsvollem Glauben bewusst gewesen: “Gott ist grösser als unser Herz, und er weiss alles.”8 Er weiss um jede gute Absicht, um jedes bisschen guten Willen, um jede gute Meinung. Er weiss um unser redliches Bemühen, und wäre es noch so schwach. Er weiss um unseren wohlgemeinten Einsatz für das Gute, und wäre er noch so klein. Er weiss um unsere selbstlosen Unternehmungen, und wären es noch so wenige.

Alles Streben nach Heiligkeit und Vollkommenheit setzt eine Schärfung unseres Gewissens voraus. Je mehr wir unser Gewissen gemäss den Geboten Gottes und den Weisungen der Kirche formen, umso mehr werden wir feststellen, wo es bei uns fehlt und mangelt, aber auch wo es gut geht und gottgefällig ist. Nur ein gut gebildetes Gewissen urteilt richtig und wahrhaftig. Das Gewissen, “der verborgenste Kern und das Heiligtum des Menschen, in dem er allein ist mit Gott, dessen Stimme in seinem Innersten widerhallt”9, ist stets auf die Wahrheit verpflichtet. Es beruht auf einem Gesetz, das sich der Mensch nicht selbst gibt, das ihm vielmehr vorgegeben ist und dem er gehorchen muss. Dessen Stimme ruft ihn immer an, das Gute zu lieben und zu tun, das Böse jedoch zu meiden. Dieses Gesetz ist dem Menschen von Gott ins Herz geschrieben und lässt ihn sogar seine Würde erkennen. Es wirkt sich geradezu katastrophal aus, wenn ein verbildetes und verblendetes Gewissen vorhanden ist und zu Taten schreitet. Am schlimmsten wirkt sich die Gewissenlosigkeit aus. Der Beispiele in der Geschichte der Menschheit sind Legion. “Um die Stimme des Gewissens vernehmen und ihr folgen zu können, muss man in sich gehen. Dieses Streben nach Innerlichkeit ist umso nötiger, als das Leben uns oft in Gefahr bringt, jegliche Überlegung, Selbstprüfung und Selbstbesinnung zu unterlassen.”10 So mahnt der heilige Augustinus zurecht: “Halte Einkehr in dein Gewissen, dieses befrage! ... Haltet also Einkehr in euer Inneres, Brüder! Und in allem, was ihr tut, schaut, dass Gott euer Zeuge sei!”11

Als Realisten rechnen wir immer auch mit dem irrigen Gewissen. Daher muss jede Entscheidung wohlüberlegt getroffen werden und einer Prüfung vor Gott und seinem Heilswillen standhalten können. Die Gewissenserziehung geht somit der Gewissensentscheidung voraus. Sie ist eine lebenslange anspruchsvolle Aufgabe und bildet zu verantwortlichem Handeln heran. Sie gewährleistet die wahre Freiheit, die nie auf Kosten der anderen bestehen kann, und führt zum Frieden des Herzens, den nur der schenken kann, der selbst der Friede ist. Der heilige Bruder Klaus hat es kurz und bündig so ausgedrückt: “Fried ist allweg in Gott, denn Gott ist der Friede”12 Hierin ist Gott immer grösser als unser Herz, das uns oft anklagt und verurteilt, weil wir unser Gewissen zu wenig geschult und gebildet haben - unter dem Anspruch des Wortes Gottes, das wir nie um seine Kraft bringen dürfen. Gerade heute - in einer Zeit grosser Verwirrungen und Verirrungen - sind wahrheitsgetreue Gewissensentscheidungen gefordert. Denken wir da nur etwa an das nach wir vor brennende Thema des menschlichen Lebensschutzes vom Augenblick der Empfängnis an bis zum natürlichen Tod oder an dasjenige des unauflöslichen Treuebündnisses von Mann und Frau in der rechtmässigen Ehe.

2. Grösser als unser Herz, das oft schwer leidet

Kardiologie ist die medizinische Wissenschaft vom menschlichen Herzen als einem lebenswichtigen Organ. Herzerkrankungen führen bekanntlich zu erheblichen gesundheitlichen Störungen und können eine todbringende Gefahr für Leib und Leben bedeuten. Auch wenn es heute erstaunlich gute Mittel und Wege gibt, um Herzpatienten zu helfen und hierbei Schlimmeres oder Schlimmstes zu verhindern, so ist doch jedem klar: Herzkrankheiten und Herzleiden bedürfen einer regelmässigen Beobachtung und ärztlichen Betreuung. Was für das natürliche Herz gilt, trifft nicht weniger auch auf das zu, was wir im übertragenen Sinne “Herz” nennen - also auf die Seele des Menschen, auf sein innerstes Wesen, auf seine empfindsame Geistigkeit. Man wird nicht bestreiten können, dass es oft sogar eine Wechselwirkung zwischen diesen beiden Herzen gibt. Seelenstress kann mitunter auch Herzkomplikationen hervorrufen. Wer dauernd im Zwiespalt mit sich und mit anderen und auch mit Gott lebt, weist oft auch im leiblichen Bereich Krankheitsbilder auf, die auf solche Disharmonie schliessen lassen. Nur schon ständig ungeordnetes Gefühlsleben kann krank machen.

Die eigentliche Krankheit der Seele aber ist die Sünde. Nach einem Wort des heiligen Evangelisten Johannes ist Sünde “Gesetzwidrigkeit”13. Nun ist Gott jedoch grösser als das Herz, das unter der Sünde oft schwer leidet. Gott selbst ist in unserer sündigen Welt erschienen, “um die Sünde wegzunehmen, und er selbst ist ohne Sünde. Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht. Jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen und ihn nicht erkannt.”14 Johannes geht der Sache auf den Grund, wenn er schreibt: “Meine Kinder, lasst euch von niemand in die Irre führen! Wer die Gerechtigkeit tut, ist gerecht, wie Er gerecht ist. Wer die Sünde tut, stammt vom Teufel; denn der Teufel sündigt von Anfang an. Der Sohn Gottes aber ist erschienen, um die Werke des Teufels zu zerstören. Jeder, der von Gott stammt, tut keine Sünde, weil Gottes Same in ihm bleibt. Er kann nicht sündigen, weil er von Gott stammt. Daran kann man die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels erkennen: Jeder, der die Gerechtigkeit nicht tut und seinen Bruder nicht liebt, ist nicht aus Gott.”15 Gottesliebe und Nächstenliebe gehören wesentlich zusammen. Wenn der Liebe zu Gott keine guten Werke im Dienst am Menschen folgen würden, wäre es keine wirkliche Liebe. Die Gottesliebe muss sich in der Nächstenliebe bewähren. Der Sohn Gottes hat sein Leben für uns hingegeben. Seine Ganzhingabe an den himmlischen Vater ist auch ganz Gabe für uns Menschen. Gerade darin haben wir seine Liebe erkannt. Jesus Christus ist der göttliche Arzt - der eigentliche “Kardiologe”, der das Herz eines jeden von uns genauestens kennt und der alle heilen will, die zu ihm kommen und von ihm die Rettung erwarten. Er hat sein kostbares Blut als Lösepreis für viele vergossen. Er hat uns nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft, nicht um Silber oder Gold, sondern mit seinem eigenen Blut.16 Wer sein Herz, der Wahrheit gehorsam, rein gemacht hat für eine aufrichtige Bruderliebe, kann und will nicht aufhören, den Nächsten zu lieben wie sich selbst - und dies zur Ehre und Verherrlichung Gottes, der das Heil des Menschen will. Jesus sagt: “Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken”17 - eben wir, die wir alle im Grunde Herzpatienten sind und der verzeihenden Liebe des göttlichen Erlösers bedürfen. Die Medizin, die der Herr uns verabreicht, ist die Arznei der Unsterblichkeit. Der Priester betet - eingedenk seiner Unwürdigkeit - vor dem Empfang der heiligen Kommunion still, der Genuss des Leibes Christi möge ihm nicht zum Gericht und zur Verdammnis gereichen, sondern durch dessen Güte zum Schutz für Leib und Seele und zu seiner Heilung. Und nach dem Kommunionempfang und der Kommunionausteilung betet er wiederum still: “Was wir mit dem Munde empfangen haben, Herr, das lass uns mit reinem Herzen aufnehmen, und diese zeitliche Speise werde uns zur Arznei der Unsterblichkeit”18.

Der würdige Kommunionempfang, der voraussetzt, dass wir im Stande der heiligmachenden Gnade sind, ist ein wunderbarer Vorgang der Heilung und Heiligung. In der heiligen Hostie ist der Gottmensch Jesus Christus mit seinem Leib wahrhaft und wesenhaft gegenwärtig. Er kommt als heilige Seelenspeise in unseren Leib und in unser Herz und gibt uns so bereits Anteil am göttlichen und ewigen Leben. Diese heilige Speise müssen wir daher in jeder Hinsicht unterscheiden von gewöhnlicher Speise, damit uns nicht das erschreckende Urteil des heiligen Paulus trifft: “Wer also unwürdig von dem Brot isst und aus dem Kelch des Herrn trinkt, macht sich schuldig am Leib und Blut des Herrn. Jeder soll sich selbst prüfen; erst dann soll er von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken. Denn wer davon isst und trinkt, ohne zu bedenken, dass es der Leib des Herrn ist, der zieht sich das Gericht zu, indem er isst und trinkt. Deswegen sind unter euch viele schwach und krank, und nicht wenige sind schon entschlafen. Gingen wir mit uns selbst ins Gericht, dann würden wir nicht gerichtet. Doch wenn wir jetzt vom Herrn gerichtet werden, dann ist es eine Zurechtweisung, damit wir nicht zusammen mit der Welt verdammt werden.”19

Es ist für uns alle tröstlich zu wissen, dass Gott in seiner barmherzigen Liebe grösser ist als unser Herz, das oft schwer leidet - gerade auch schmerzlich leidet wegen der Unwürdigkeit des Kommunionempfangs. Da gilt es angesichts dessen, dass Gott grösser ist als unser Herz, vieles aufzuholen und das, was seit eh und je gilt, wieder einzuholen.

3. Grösser als unser Herz, das oft nur schwach liebt

­Zugegeben: wir sind nicht eben selten offenkundige oder verkappte Egoisten. Wir sollten als Christen stets zur selbstlosen Liebe fähig und bereit sein. Doch oft überwiegen auch bei uns Eigenliebe und Eigenwille, so dass wir zu jenen gehören, welche als ihr erstrebenswertes Ziel die blosse Selbstverwirklichung sehen. Wie anders ist doch Jesus, unser Meister und Herr. Im Abendmahlssaal kniet er wie ein Sklave nieder und wäscht die Füsse seiner Apostel. Wieder ist es der heilige Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, der uns an diesem Zeichen des Geheimnisses der wahren Liebe teilhaben lässt, wenn er berichtet: “Als er ihnen die Füsse gewaschen, sein Gewand wieder angelegt und Platz genommen hatte, sagte er zu ihnen: Begreift ihr, was ich an euch getan habe? Ihr sagt zu mir Meister und Herr, und ihr nennt mich mit Recht so; denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füsse gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füsse waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe. Amen, amen, ich sage euch: Der Sklave ist nicht grösser als sein Herr, und der Abgesandte ist nicht grösser als der, der ihn gesandt hat. Selig seid ihr, wenn ihr das wisst und danach handelt.”20 Jesus, dessen Herz immer grösser ist als unser Herz, das oft nur schwach liebt, ist so klein geworden wie ein Sklave. Er hat sich gebeugt und gleichsam die Grösse eines Kindes angenommen. Wird hier nicht noch einmal deutlich, was unser Heiliger Vater Papst Benedikt XVI. in seiner weihnächtlichen Mitternachtspredigt letzten Jahres gemeint hat, wenn er sagte, das Herz Gottes habe sich herabgebeugt? Berühren wir hier nicht noch einmal die Demut Gottes und damit das Herz Gottes, das zum letzten Sklavendienst bereit ist? In Jesus Chris­tus ist dieses göttliche Herz konkret gegenwärtig und schlägt in dienender Liebe für uns Menschen, die wir oft so lieblos und kalt sind. Unbeschreiblich gross ist also die Liebe des göttlichen Erlösers, dessen Herz unaufhörlich blutet angesichts unserer Lieblosigkeit und Herzenshärte. Unbegreiflich gross sind sein Herz und sein kostbares Blut, welche die Kirche in ihren Gebeten, Litaneien und Gesängen preist und verherrlicht - immer grösser als unser Herz, das oft nur schwach liebt; immer grösser als unser Herz, das sich oft der Liebe verweigert oder sich weigert zu lieben. Wir sind immer wieder einmal die alten Egoisten, auch wenn wir uns bemüht haben, unseren Egoismus zu überwinden. Wir meinen oft, etwas zu verlieren, wenn wir selbstlos lieben und nichts dafür erhoffen. Auch wenn wir immer für andere ein Echo der Liebe sein sollen, dürfen wir nicht erwarten, dass andere ein Echo der Liebe für uns sind. Die christliche Liebe ist nicht auf “do ut des” angelegt, also: ich gebe, damit du mir gibst.

Unser Glaube kommt in der Liebe zu seiner Vollendung; “denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe. Die Liebe Gottes wurde unter uns dadurch offenbart, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat.”21­ Mit dem Begriff “Sühne” können heute leider viele nichts mehr anfangen; er ist ihnen fremd geworden und bleibt dabei für so manchen ausser Betracht. Mit der Sühne aber, die der Sohn Gottes unserer Sünden wegen durch sein Leiden und durch seinen Tod am Kreuz geleistet hat, wurde gerade die Gerechtigkeit wiederhergestellt, ohne die es keine wahre Liebe gibt. Durch Jesu Sühneleistung sind wir als Kinder Gottes wieder in Entsprechung zum himmlischen Vater gelangt, so dass jener Kontakt wieder aufgenommen wurde, den der Mensch durch die Erbsünde abgebrochen oder geschwächt hatte. Dass Gott hierbei grösser ist als unser Herz, zeigt sich nur schon darin, dass er selber in seiner barmherzigen Liebe die Initiative ergriffen hat. Wenn viele mit dem Gedanken der Sühne ihre Mühe haben, so hängt das nicht zuletzt mit dem verheerenden Schwund des Sündenbewusstseins zusammen. Wenn man sich der eigenen Sündhaftigkeit nicht mehr inne wird, ist auch das Verlangen nach der Versöhnung mit Gott nicht mehr da.

Gottes Stärke ist die Liebe, mit der er uns zuerst geliebt hat, noch bevor wir ihn lieben. Er, der die Liebe ist, ist immer grösser als unser Herz, das oft nur schwa­ch liebt. Die zuvorkommende Liebe Gottes macht ihn zum Initianten jeder wahren Liebesbeziehung und jeder wahren Liebestat. Die Liebe Gottes ist niemals müssig. Sie wirkt Grosses. Wo aber nichts Wahres bewirkt wird, ist sie nicht vorhanden. Daher ist die bereitwillige Erfüllung der göttlichen Gebote ein sicheres Zeichen wahrer Liebe. Denn der Liebende unternimmt Grosses und Schwieriges um des Geliebten willen. Jesus sagt es so: “Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer mich aber liebt, wird von meinem Vater geliebt werden, und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren.”22

Wir alle wissen nur zu gut, dass wir getrennt von Jesus Christus nichts wirklich vollbringen können. Die Gemeinschaft mit ihm macht uns erst zur grossen selbstlosen Liebe fähig. Wenn unser Herz von der Liebe Christi erfüllt wird, sprengt diese Liebe unsere Engherzigkeit auf und macht uns weitherzig. So werden auch wir grossherzig im Verzeihen, grossherzig im Geben, grossherzig im Lieben. Jesu Herz ist immer grösser als unser Herz; doch unsere innige Bitte an ihn lautet: Bilde unser Herz nach deinem Herzen! Je mehr wir unser Herz nach seinem Herzen formen lassen, umso mehr werden wir lieben, wie er liebt. Dies wird sich in vielfältigen Taten der Liebe zeigen: in unserer Hilfsbereitschaft, in unserer Wohltätigkeit, in unserer Solidarität mit den Armen und Schwachen, in unserer Zuwendung zu Kran­ken, Betagten und Sterbenden, in unserer Liebe zu Kindern und Jugendlichen, in unserem Einsatz für die Nächsten.

Gott ist grösser als unser Herz, das uns oft verurteilt. Gott ist grösser als unser Herz, das oft schwer leidet. Gott ist grösser als unser Herz, das oft nur schwach liebt. Gott ist immer grösser als unser Herz. Und doch möchte Gott gerade unser Herz grösser machen: grösser für die Wahrnehmung unserer Verantwortung, grösser für das Ertragen unserer Leiden, grösser für ein Leben aus Liebe. Dieses grössere Herz erkennen wir im unbefleckten Herzen Mariens, das alle anderen menschlichen Herzen überragt. Ihrem makellosen Herzen empfehlen wir unsere eigenen Herzen. Wir bitten Maria, die “Zuflucht der Sünder”, das “Heil der Kranken”, die “Trösterin der Betrübten”, um ihren mütterlichen Schutz und Beistand, damit unser Herz immer grösser werde für Gott und unsere Mitmenschen. Amen.

Schellenberg, 13. Januar 2008

✠ Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

 

1           Röm 8,23-24a

2           Vgl. Röm 4,18

3           1Joh 3,19-20

4           Homilie von Papst Benedikt XVI. am 25. Dezember 2007 bei der Mitternachtsmesse in der Basilika St. Peter zu Rom

5           1Joh 4,16b

6           1Joh 4,17-18

7           Therese von Lisieux, Ihr Leben und ihr “kleiner Weg” in 365 Selbstzeugnissen, hrsg. v. W. Herbstrith, München/Zürich/Wien 1997, S. 66

8           1Joh 3,20

9           Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution “Gaudium ed spes”, Nr. 16

10         Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1779

11         Zitat ebenda

12         Hl. Niklaus von Flüe, Dankbrief vom 4. Dezember 1482

13         1Joh 3,4

14         1Joh 3,5-6

15         1Joh 3,7-10

16         Vgl. 1Petr 1,18-19

17         Mt 9,12; Mk 2,17; Lk 5,31

18         In anderer sprachlicher Fassung: “Was wir mit dem Munde empfangen haben, Herr, das lass uns auch mit reinem Herzen aufnehmen; und aus dieser zeitlichen Gabe werde uns ewige Erquickung”.

19         1Kor 11,27-32

20         Joh 13,12-17

21         1Joh 4,7-10

22         Joh 14,21