Hirtenbrief zur Fastenzeit 2018

Er aber schwieg

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2018 von Msgr. Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz 

(Der Hirtenbrief ist am 1. Fastensonntag, 18. Februar 2018, in allen Gottesdiensten vorzulesen. Er kann auch auf zwei Fastensonntage verteilt vorgetragen werden. Zur Veröffentlichung in der Presse ist er vom 19. Februar 2018 an freigegeben.)

 

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn! 

Es wird erzählt, Michelangelo habe nach Fertigstellung seiner grandiosen Marmorskulptur des Moses1 mit einem Hammer auf dessen rechtes Knie geschlagen und im Blick auf die starke Aussagekraft dieser Sitzfigur gesagt: “Moses, warum sprichst du nicht?” Ja, das steinerne Meisterwerk spricht nicht und kann nicht sprechen, aber es spricht an. Es ist gerade in seiner Schweig­samkeit selbstredend und berührt die Seele des Betrachters.

Ganz ähnlich erleben wir ein Film-Dokument über das Leben in der Grossen Kartause bei Grenoble in Frankreich. Der Kinofilm mit dem Titel “Die grosse Stille”, vielfach belobigt, lässt uns den Tagesablauf der Mönche miterleben; es wird kaum ein Wort gesprochen, so dass man glauben könnte, man sehe sich  einen Stummfilm an. Dennoch beansprucht das über zweieinhalb Stunden dauernde Kinoereignis den Zuschauer mehr als so mancher dramatische Spielfilm. Vielleicht haben einige nur schon Mühe, die Stille auszuhalten, und schalten schnell ab. Unerfüllte Stille ist eben eine beinahe unerträgliche Stille. Erfüllte Stille ist hingegen tragend, bergend und göttlich. Gerade für den heutigen Menschen, der stets in Aktion sein möchte, bei dem also immer “etwas laufen” muss, wird die Kontemplation als eine Herausforderung und nicht selten sogar als eine Überforderung empfunden. Und doch bleibt im Menschen eine verborgene Sehnsucht nach Stille und Geborgenheit. Bekanntlich ist nach einem Wort des heiligen Augustinus unser Herz zwar unruhig, aber auf die Ruhe in Gott angelegt.2

Kaum ein Buch hat mich in letzter Zeit so sehr angesprochen, besser gesagt: angeschwiegen, wie dasjenige eines Kardinals unserer Kirche mit dem Titel “Kraft der Stille. Gegen eine Diktatur des Lärms”3. Dieser Interview-Band lässt sowohl einen prominenten kirchlichen Würdenträger als auch den Prior der Grossen Kartause zu Wort kommen, um uns gleichsam den Mehrwert und die Heilkraft des gotterfüllten Schweigens nahezubringen und beliebt zu machen. Wer kennt sie nicht: die Hektik im Alltag und die permanente Geräuschkulisse, die Penetranz der Bilderwelt und die Inflation der Worte - vor allem in der medialen und digitalen Überflutung unserer Zeit? Neben den klassischen Publikationsorganen hat inzwischen eine Fülle von elektronischen Kommunikationsmitteln weltweit das Terrain der Menschheit erobert, so dass sich bereits Krankheitsbilder auf physischem, psychischem, emotionalem und intellektuellem Gebiet zeigen. So haben die Fernsehsüchtigen in den Internet- und Handysüchtigen reichlich Gesellschaft bekommen. Sich solchen Süchten zu entziehen und den nützlichen Gebrauch der Kommunikationsinstrumente von deren gefährlichem Missbrauch zu unterscheiden, setzt eine besondere Tugendhaftigkeit voraus und mahnt eine Verzichtshaltung an, die als eine neue Form der Aszese oder des Fastens bezeichnet werden kann. Da ist das erwähnte Interviewbuch gewiss Anlass zu notwendiger Nachdenklichkeit und motiviert zu einem veränderten Verhalten.

Als gläubigen Christen muss es uns immer darum gehen, den Blick auf Jesus auszurichten und sein Leben, Lehren und Wirken als massgebend für unsere Nachfolge zu betrachten. Das gilt zu allen Zeiten und für alle Zeitumstände, also auch heute. Jesus Christus ist unser einziger wahrer Lehrer4. Er ist dieser  gerade auch, wenn es um das Reden und um das Schweigen geht. So mahnt uns Jesus: “Ich sage euch: Über jedes unnütze Wort, das die Menschen reden, werden sie am Tag des Gerichts Rechenschaft ablegen müssen; denn aufgrund deiner Worte wirst du freigesprochen, und aufgrund deiner Worte wirst du verurteilt werden.”5 Wenn unser Herr lehrt, dann spric­ht er zwar “lange”6, wie es heisst, und verwendet viele Gleichnisse zum leichteren und besseren Verständnis, wenngleich er aber  dabei auch erlebt, dass seine Begleiter und Zuhörer ihn nach den Sinn seiner Gleichnisse fragen.7 Durch die Erklärung der Gleich­nisse wird noch einmal deutlich, dass Jesus lehrt und sich nicht in nutzlose Diskussionen einlässt. So verweigert er sich auch jedem ausufernden Dialog, der zu nich­ts führen würde. Damit wird sein Verhalten auch massgeblich für die Verkündigung der Kirche, welcher das Lehren, Leiten und Heiligen aufgetragen ist. Die Kirche ist also kein Debattierclub, bei dem es um einen mehr oder weniger belanglosen Austausch von Meinungen und Ansichten ginge und wo es dann allenfalls zu einem Kompromiss oder Konsens kommen müsste. Ihr ist vielmehr die Heilsbotschaft Jesu Christi anvertraut, die es getreulich weiterzugeben gilt. Diese entspringt der göttlichen Offenbarung selbst und steht daher nie und niemandem zur Disposition. Der Glaube kommt vom Hören auf die Botschaft, die im Wort Christi gründet.8

  1. Gelegentliches Schweigen

Wie die Evangelien bezeugen, ist Jesus wahrhaft kein Dialogfanatiker. Er unterliegt nicht einem Zwang zum ständigen Dialog, wie dieser inzwischen weit herum Programm sein soll. Man erwartet sowohl im weltlichen als auch im kirchlichen Raum immer und überall Dialogfähigkeit und Dialogbereitschaft. Wer nicht ständig dialogfreundlich und dialogwillig ist, gilt zum vornherein als stur und starrsinnig; ihm wirft man vor, ein Dialogverweigerer oder ein Kommunikationsgestörter zu sein. Manchmal herrscht sogar so etwas wie Dialogeuphorie.

Nur schon das Sprichwort “Reden ist Silber, Schweigen ist Gold” hat bei einer solch ideologischen Sicht des Dialogs ausgespielt. Und doch steckt darin soviel Weisheit, wie jeder aus eigener Erfahrung weiss. So gibt es Momente in unserem Leben, wo wir im Nachhinein sagen müssen: “Es wäre besser gewesen, wenn ich geschwiegen hätte. Durch mein Reden habe ich eher geschadet als genützt”. Bei jedem Gespräch ist es notwendig und angezeigt, dem Gebrauch unserer Worte und unserer Wortwahl eine kluge Abwägung vorauszuschicken. Diese lässt es dann manchmal angeraten sein zu schweigen - nicht etwa aus Feigheit oder falscher Diplomatie, sondern weil wir voraussehen, dass in bestimmten Situationen unüberlegte Worte tiefe Verletzungen, kaum auszuräumende Missverständnisse, ja mitunter bleibenden Schaden verursachen. 

Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, hätte gewiss in jeder Situation jeweils die richtige Antwort zu geben gewusst und wäre um keine Antwort verlegen gewesen. Er lässt sich jedoch nicht immer auf einen Dialog ein. Besonders auffallend ist dies bei der Versuchung durch den Teufel in der Wüste9. Jesus lässt sich bei der dreifachen Anfechtung durch den bösen Feind nicht auf eine Diskussion ein, sondern antwortet jeweils mit einem Bibelwort, das der offenbar bibelkundige Teufel ohnehin kennt. Mit dem “Vater der Lüge”10 führt man keinen Dialog. So hat auch Papst Franziskus, der nicht selten vom Teufel und seiner Taktik spricht, jüngst in einem Fernsehinterview geäussert: “Ich bin davon überzeugt: Mit Satan kann man keinen Dialog führen. Wenn du anfängst mit Satan einen Dialog zu führen, dann bist du verloren. Er ist schlauer als wir. Er umringt, umgibt dich, verdreht dir den Kopf, und dann bist du verloren. Nein, geh weg! Der Teufel ist immer täuschend gerissen im Umgang mit uns. Sogar mit Prie-stern und Bischöfen ist er gerissen. So schleicht er sich heran, und du bist verloren, wenn du es nicht rechtzeitig merkst.”11 Wenn man mit dem “Vater der Lüge” keinen Dialog führen darf, dann gilt das auch für dessen Handlanger, also für lügenhafte, unehrliche und wahrheitsverachtende Menschen, es sei denn, dass diese zu einer echten Bekehrung bereit sind.

Wenn wir uns an den verhängnisvollen Dialog Evas mit der Schlange im Paradies erinnern, dann macht uns das bewusst, wie eine noch so kurze Unterredung mit dem Teufel folgenschwer ist. Denn aus jenem Dialog und dem deraus resultierenden Ungehorsam des Menschen folgte die Erbsünde, an der die Menschheit fortwährend krankt und an deren Folgen selbst die Getauften zu leiden haben. Jedes Gespräch ist somit auch davon bedroht, so dass es naiv wäre zu glauben, jeder Dialog müsste gelingen. Gelegentliches Schweigen ist auf diesem Hintergrund  geradezu geboten. Im Lichte des wahren Glaubens sind wir in der Lage, die richtige Gelegenheit zu erkennen. Das Gebet um die Unterscheidung der Geister ist dafür aber Voraussetzung.

  1. Verlegenes Schweigen

Schon bei einem Kind gibt es das verlegene Schweigen, das manchmal sogar in Tränen endet. Wenn es einer Lüge überführt oder bei einer bösen Tat ertappt oder bei einem unanständigen Verhalten erwischt wird, zeigt sich gewöhnlich dieses verlegene Schweigen, das die Schamröte ins Gesicht treibt. Nun betrifft das nicht nur Kinder, bei denen doch noch ein ehrliches Empfinden vorausgesetzt werden darf, sondern auch die Erwachsenen - und diese, auch wenn ihnen oft vor lauter Gewohnheit und Abgebrühtheit keine Schamröte mehr ins Gesicht steigt, weil sie leider oft gelernt haben, schamlos selbst schwere Sünden zu verharmlosen oder gar noch zu rechtfertigen. Wen überkommt schon ein Schuldgefühl, wenn er die Grenzen des guten Anstandes überschreitet, wenn Schwindeleien und Hinterlistigkeiten zum Geschäftsgebaren gehören, wenn Untreue und Veruntreuung, Unrecht und Verlogenheit im besten Fall noch als Kavaliersdelikte betrachtet werden? Wo die gesunde Moral sinkt, kommen zunehmend Doppelmoral und Unmoral auf, die bei manchen nicht einmal mehr Anlass zu einem verlegenen Schweigen sind. Da wäre es mehr als angebracht, an die kindliche Seele zu denken, die noch zu einem Schweigen aus Verlegenheit fähig ist und damit eine Chance zur Besserung hat. Die Begebenheit mit der Ehebrecherin, wie sie uns im Evangelium berichtet wird12, zeigt uns das verlegene Schweigen der Schriftgelehrten und Pharisäer, namentlich der Ältesten. Nachdem Jesus ihnen sagte: “Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie”13, “ging einer nach dem andern fort, zuerst die Ältesten”14 - und zwar wortlos. Das zeigt doch in aller Deutlichkeit deren Verlegenheit. Soviel Selbsterkenntnis in die eigene Schuld hatten jene Männer doch, dass sie sich in ihrer Betroffenheit lautlos davonmachten.

Ein ebensolch verlegenes Schweigen wird uns im Lukasevangelium berichtet, als es um die Heilung eines Wassersüchtigen am Sabbat ging: “Jesus wandte sich an die Gesetzeslehrer und Pharisäer und fragte: Ist es am Sabbat erlaubt zu heilen oder nicht? Sie schwiegen. Da berührte er den Mann, heilte ihn und liess ihn gehen. Zu ihnen aber sagte er: Wer von euch wird seinen Sohn oder seinen Ochsen, der in den Brunnen fällt, nicht sofort herausziehen, auch am Sabbat? Darauf konnten sie ihm nichts erwidern.”15 Es ist also nichts Nachteiliges, wenn wir in einer Verlegenheit zum Schweigen gebracht werden. Es gehört dies nicht selten sogar zur Schule der Demut. Das wird noch deutlicher beim Rangstreit der Jünger, wo Jesus diese zu Hause fragt: “Worüber habt ihr unterwegs gesprochen? Sie schwiegen, denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer von ihnen der Grösste sei. Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es auf seine Arme und sagt zu ihnen: Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.”16

Dadurch, dass Jesus so manches Mal Anlass zu einem verlegenen Schweigen gibt, hilft er den Einsichtigen und Gutwilligen, jene demütige Zurückhaltung zu erlernen, die gottgefällig macht und jedem Karrierismus entgegensteht. Er hat dadurch aber auch jene betroffen gemacht, die uneinsichtig und unwillig sind und bleiben. Sie müssten sich und ihr Verhalten ja ändern, aber sie wollen es nicht. Von solchen heisst es im Evangelium: “Da liessen sie ihn stehen und gingen weg”17. Sind es heute nicht auch viele, die Jesus einfach stehen lassen und weggehen, weil sie sich von ihm nicht ansprechen lassen wollen und sich so seiner Liebe verweigern? Wenn der Herr uns dann und wann in Verlegenheit bring­t, gerade weil er es gut mit uns meint, dann wollen wir dies schweigend hinnehmen und unser Herz immer neu öffnen, um seiner befreienden, frohmachenden, ja beglückenden Weisung Folge zu leisten, auch wenn uns dies schwerfallen sollte und unsere Opferwilligkeit herausfordert.

  1. Überlegenes Schweigen

 Üblicherweise sprechen wir bei sportlichen Wettkämpfen von solchen, die den einen überlegen oder den anderen unterlegen sind; und wir verbinden damit Sieg oder Niederlage. Dasselbe kennen wir etwa auch von einem Rededuell, wo die eine Person oder Partei der anderen überlegen oder unterlegen ist. Überlegenheit oder Unterlegenheit gibt es somit bei Taten und Worten. So stellt sich zurecht die Frage, warum und wie man von einem “überlegenen Schweigen” sprechen kann. Auch da ist der Blick auf Jesus und auf sein Verhalten der Schlüssel zum Verständnis.

Schon bei der Geschichte der Versuchung Jesu in der Wüste muss der Teufel angesichts der Verweigerung eines eigentlichen Dialogs kapitulieren. Nachdem Jesus nur mit Worten der Heiligen Schrift auf dessen Attacken reagiert, gibt der listige Dialogkünstler wenigstens vorläufig auf. Es heisst: “Da liess der Teufel von ihm ab”18; und an einer anderen Stelle zum gleichen Bericht lesen wir: “Nach diesen Versuchungen liess der Teufel für eine gewisse Zeit von ihm ab.”19 Denn dieser wird immer wieder versuchen, Jesus in seiner Mission auf Erden anzufechten und zu hindern. Jesus aber wird sich nie auf einen Dialog einlassen, sondern den unreinen Geistern “mit Vollmacht und Kraft” befehlen, so dass sie fliehen.20 Seine Lehre, die betroffen macht, entstammt göttlicher Vollmacht, ist gleichsam aus Schwei­gen geboren und auf Schweigen angelegt. Der Dämon weiss, wer Jesus ist, und sagt es auch: “Ich weiss, wer du bist: der Heilige Gottes!”21. Da befiehlt ihm Jesus: “Schweig und verlass ihn!”22 Die im Grunde aus göttlicher Schweigsamkeit kommende Vollmacht Jesu lässt ihn da und dort in seiner Souveränität erscheinen. Bei der Frage nach dieser seiner Vollmacht fällt dies besonders auf: “Als er in den Tempel ging und dort lehrte, kamen die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes zu ihm und fragten: Mit welchem Recht tust du das alles? Wer hat dir dazu die Vollmacht gegeben? Jesus antwortete ihnen: Auch ich will euch eine Frage stellen.  Wenn ihr mir darauf antwortet, dann werde ich euch sagen, mit welchem Recht ich das tue. Woher stammte die Taufe des Johannes? Vom Himmel oder von den Menschen? Da überlegten sie und sagten zueinander: Wenn wir antworten: Vom Himmel!, so wird er zu uns sagen: Warum habt ihr ihm dann nicht geglaubt? Wenn wir aber antworten: Von den Menschen!, dann müssen wir uns vor den Leuten fürchten; denn alle halten Johannes für einen Propheten. Darum antworteten sie Jesus: Wir wissen es nicht. Da erwiderte er: Dann sage auch ich euch nicht, mit welchem Recht ich das alles tue.”23

Das ist souverän! Hierzu nichts sagen, sagt eigentlich alles. Jesus steht durch sein “überlegenes Schweigen”, also ohne Worte, für sich und seine Sendung gerade. Dadurch, dass die Umstehenden die an sie gerichtete Frage nicht beantworten wollen und können, steht er in seiner Autorität fraglos da.

Den Höhepunkt erreicht dieses überlegene Schweigen beim Verhör vor dem Hohen Rat. Zu den Anklagen, die letztlich zu seiner Hinrichtung führen, nimmt Jesus keine Stellung. Als der Hohepriester Jesus fragt: “Willst du denn nichts sagen zu dem, was diese Leute gegen dich vorbringen?”24, äussert der Herr zunächst nichts. Es heisst im Evangelium schlicht und einfach: “Er aber schwieg und gab keine Antwort.”25 Wiederum reagiert Jesus souverän. Sein überlegenes Schweigen wirkt sogar provokant. Auch bei der Verhandlung vor Pilatus wird Jesus angesichts des nahenden Todes nicht wortgewaltig; vielmehr wird hier der tiefe Grund des überlegenen Schweigens in einer  kurzen Bekenntnisrede enthüllt, wenn Jesus dem römischen Statthalter antwortet: “Du sagst es, ich bin ein König: Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.”26 Wäre Pilatus ein Jünger Jesu gewesen, hätte er sich die Frage: “Was ist Wahrheit?”27 selber beantworten können; denn Jesus hatte es doch den Seinen gesagt: “Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater ausser durch mich.”28

Der Plan, Jesus umzubringen, wird schon bei seinem ersten Auftreten in Galiläa, näherhin in seiner Heimat Nazaret, gefasst, als die Leute über seine deutlichen Mahnworte in Wut gerieten und ihn zur Stadt hinaustrieben, ihn an den Abhang des Berges brachten und ihn hinabstürzen wollten. “Er aber schritt mitten durch die Menge hindurch und ging weg.”29 Hier zeigt sich schon sein überlegenes Schweigen, das auf dem Leidensweg - in der Passion - seinen Höhepunkt erreicht und beim Tod am Kreuz die Vollendung findet; denn “er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf.”30

In seinem Geleitwort zum eingangs erwähnten Buch “Kraft der Stille. Gegen eine Diktatur des Lärms” zitiert Benedikt XVI. aus einem Brief des heiligen Ignatius von Antiochien: “Besser ist schweigen und sein als reden und nicht sein. Gut ist das Lehren, wenn man tut, was man sagt ...”31 Er plädiert dann für ein “Eintreten in Jesu Schweigen, aus dem sein Wort geboren ist. Wenn wir nicht in dieses Schweigen einzutreten vermögen, werden wir auch das Wort immer nur von seiner Oberfläche her hören und so nicht wirklich verstehen.”32 Hier drängt es sich geradezu auf, an Maria zu denken. Sie ist die beste Lehrmeisterin, um dieses Eintreten in Jesu Schweigen mit uns zu üben. Von ihr heisst es ja - auch für uns beherzigenswert: “Maria aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach.”33 Diese marianische Nachdenklichkeit wünsche ich uns allen beim gelegentlichen Schweigen, beim verlegenen Schweigen und auch beim überlegenen Schweigen. Solche Besinnlichkeit wird schliesslich einmünden in einen stillen Dialog unseres Herzens mit Gott. Amen.                      

Schellenberg, am Fest der Bekehrung des Apostels Paulus, 25. Januar 2018

✠ Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

 

1 Sie befindet sich in der römischen Kirche S. Pietro in Vincoli.

2 Vgl. Augustinus, Confessiones 1,1,1

3 Robert Kardinal Sarah/Nicolas Diat, Kraft der Stille. Gegen eine Diktatur des Lärms, Kisslegg 2017 (Das Buch erschien 2016 in französischer Sprache unter dem Titel “La Force du Silence”.)

4 Er sagt selbst: “... einer ist euer Lehrer, Christus” (Mt 23,10).

5 Mt 12,36-37

6 Vgl. Mk 4,2

7 Vgl. Mk 4,10

8 Vgl. Röm 10,17-18

9 Mt 4,1-11; Lk 4,1-13; Mk 1,12-13

10 Joh 8,44

11 Interview mit dem italienischen TV2000, 12.12.2017

12 Vgl. Joh 8,3-11

13 Joh 8,7

14 Joh 8,9

15 Lk 14,3-6; vgl. auch Mk 3,4

16 Mk 9,33-37; vgl. auch Mt 18,1-5

17 Mk 12,12

18 Mt 4,11

19 Lk 4,13

20 Lk 4,36

21 Lk 4,34

22 Lk 4,35

23 Mt 21,23-27; vgl. auch Mk 11,27-33; Lk 20,1-8

24 Mk 14,60

25 Mk 14,61; vgl. auch Mt 26,62

26 Joh 18,37

27 Joh 18,38

28 Joh 14,6

29 Lk 4,30

30 Joh 19,30

31 Ignatius von Antiochien, Brief an die Epheser 15,1

32 A.a.O., S. 11/12

33 Lk 2,19; vgl. auch Lk 2,51